28.08.2023 

Kranker Mann, was nun? Unternehmen nutzen die Konjunkturflaute, um Subventionen zu ergattern

Industrievertreter nutzen die derzeitige Konjunkturschwäche, um Subventionen und Steuersenkungen einzufordern. Die Bundesregierung plant bereits entsprechende Gesetze – auf Kosten von Sozialausgaben.

Von Ernst Lohoff

Zuerst erschienen in der Jungle World 2023/34 vom 24. August 2023.

Geschichte wiederholt sich nicht, Ideologiegeschichte permanent. Kurz vor der Jahrtausendwende fällte das britische Wirtschaftsmagazin The Economist ein vernichtendes Urteil über die hiesige Volkswirtschaft und bezeichnete Deutschland als »the sick man of the Euro«. Die hiesige Wirtschaft und ihre Vertreter griffen die Wendung, die in ähnlicher Form schon seit dem 19. Jahrhundert für verschiedene Länder verwendet worden war, begeistert auf und forderten vehement ein Ende des »Reformstaus« und eine »wirtschaftsfreundlichere« Politik. Genau die kam dann auch einige Jahre später – mit der »Agenda 2010« der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD).

Ein Vierteljahrhundert später gerät das Durchblättern der Wirtschaftspresse zum Déjà-vu. »Deutschland wieder der kranke Mann Europas?«, titelte das Manager-Magazin Ende Juli und eine Woche später wortgleich das Handelsblatt. Vorige Woche ließ der Vorsitzende des Industrieverbands Gesamtmetall, Stefan Wolf, im Deutschlandfunk das Fragezeichen gleich weg: »Deutschland ist nicht mehr wettbewerbsfähig«, lautete sein Verdikt, »wir sind in der Tat wieder der kranke Mann Europas.« Die Zuhörerschaft erfuhr auch gleich, woran das liege: Hierzulande seien die Steuern und die Energiepreise zu hoch. Es gebe zu viel Bürokratie und zu viel Habeck, zu wenig Fachkräfte und zu wenig Lindner.

Wolfs Wünsche scheinen zum Teil bereits in Erfüllung zu gehen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) will mit dem »Wachstumschancengesetz« jährlich 6,5 Milliarden Euro an Unternehmen verteilen, in Form von Steuersenkungen und Subventionen. Dem Vorhaben hat freilich auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zugestimmt. Doch die Bundesfamilienministern Lisa Paus (Grüne) hat es vergangene Woche überraschend blockiert – sie will damit offenbar durchsetzen, dass im Bundeshaushalt zumindest auch 3,5 Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung bereitgestellt werden, eines der zentralen sozialpolitischen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag.

Lindner ist dagegen. Es verbessere »nicht zwingend die Lebenschancen der Kinder«, Eltern »einfach nur mehr Sozialtransfers zu überweisen«. Er berief sich auch explizit auf die derzeitige Konjunkturschwäche, um Milliardengeschenke für Unternehmen und seine Blockade bei Sozialausgaben zu rechtfertigen. Es sei »logische Voraussetzung einer neuen Leistung wie etwa der Kindergrundsicherung«, dass »wir überhaupt eine prosperierende Wirtschaft haben«.

Keine Frage: Die gängigen Wirtschaftsindikatoren weisen nach unten. Der vom Ifo-Institut erhobene Geschäftsklimaindex ist im Juli das dritte Mal in Folge gesunken. Hatten der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Bundesbank Anfang des Jahres noch mit einem Miniwachstum gerechnet, erwarten sie inzwischen für das laufende Jahr einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,3 Prozent. Die gestiegenen Zinsen haben den Immobilienboom abgewürgt. Die stärker als in vielen anderen Ländern gestiegenen Energiepreise beeinträchtigen die Kaufkraft und verursachen vor allem in energieintensiven Branchen wie der Chemieindustrie erhebliche Mehrkosten.

Als vor etwa 20 Jahren der Niedergang des Wirtschaftsstandorts prognostiziert wurde, folgte einige Jahre später das (kleine) zweite deutsche »Wirtschaftswunder«. Vor allem nach der großen Finanzkrise zeigte sich die deutsche Wirtschaft ausgesprochen dynamisch. Deutschland wies nicht nur höhere Wachstumsziffern auf als die konkurrierenden Standorte, auch bei der Entwicklung der Staatsverschuldung galt das Land als unerreichtes Vorbild. Während in den anderen kapitalistischen Kernstaaten die Verschuldungsquote stieg, fiel sie hierzulande von 82 Prozent des Bruttoinlandsprodukts 2010 auf 59,6 Prozent 2019.

Nach der gängigen marktreligiösen Propaganda waren für diese Entwicklung insbesondere die von 2003 bis 2005 verabschiedeten Hartz-Reformen verantwortlich. Die Regierung Schröder habe den wuchernden Sozialstaat beschnitten und dadurch der notleidenden Wirtschaft Luft zum Atmen verschafft. Unter umgekehrten Vorzeichen ist diese Vorstellung auch in der Linken recht populär: Der exportinduzierte deutsche Aufschwung soll im Kern das Ergebnis von Lohndumping und niedrigen Sozialstandards gewesen sein.

Deutschlands eigentliches Erfolgsgeheimnis war jedoch nicht die eigene Wettbewerbsfähigkeit, sondern die spezifische Krisenbewältigungspolitik der kapitalistische Staatenwelt nach der großen Finanzkrise. Während im Euro-Raum auf deutschen Druck eher Sparprogramme vorherrschten, legten die USA und besonders China zur Bewältigung des weltwirtschaftlichen Einbruchs riesige Konjunkturprogramme auf. Aufgrund seiner eigentümlichen, auf klassische Industrien ausgelegten Wirtschaftsstruktur kam das Deutschland besonders zugute. Besonders exportorientierte Sektoren wie die Automobilindustrie, aber auch der Maschinenbau profitierten, also Bereiche, in denen Deutschland traditionell erfolgreich ist.

Hinzu kam, dass viele Zentralbanken eine ganze Dekade lang die Weltwirtschaft mit billigem Geld fluteten. Auch davon profitierte der deutsche Standort gleich doppelt. Zum einen brachte das die Weltwirtschaft auf Wachstumskurs, was der exportorientierten deutschen Industrie wachsende Absatzmärkte sicherte. Zum anderen hatte Deutschland an früheren Blasenbildungen kaum Anteil gehabt und wurde schon deshalb zu einer Art Sehnsuchtsort des verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten suchenden transnationalen Geldkapitals.

Der hiesige Immobilienboom etwa wurde in erster Linie von zuströmendem Fluchtkapital getragen und durch die niedrigen Zinsen zusätzlich befeuert. 68 Prozent aller Immobilienkäufer in Deutschland waren 2015 ausländische Investoren, 2009 waren es noch 14 Prozent gewesen. Das blieb nicht ohne Rückwirkungen auf die Binnenkonjunktur.

Doch was damals ein Vorteil war, wird nun zum Nachteil. Ob gerissene Lieferketten im Gefolge der Covid-19-Pandemie oder der durch den russischen Angriffskrieg ausgelöste Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise – die ökonomischen Friktionen der vergangenen Jahre gehen allesamt von der Realwirtschaft aus und nicht vom Finanzüberbau. Deshalb treffen sie neben den Endverbrauchern vor allem die industrielle Produktion und damit jene Länder, die besonders auf diesen Sektor angewiesen sind. Chinas Wirtschaft befindet sich wegen Exporteinbrüchen und eines in die Krise rutschenden Immobiliensektors in einer höchst prekären Lage und ist inzwischen in die Deflation gerutscht. Auch für den deutschen Standort sind Exportorientierung und Industrielastigkeit unter den veränderten Bedingungen nicht mehr Segen, sondern Fluch.

Die staatlichen Reaktionen auf die derzeitigen globalen Krisen verschärfen die Probleme des industriellen Sektors zusätzlich. Wegen der Inflation haben Zentralbanken weltweit die Leitzinsen erhöht, was die Kapitalbeschaffung teurer macht. Für ganze Branchen wie die Bauwirtschaft sind die fetten Jahre allein schon deshalb vorbei. Noch bedeutender ist die dämpfende Wirkung steigender Zinsen auf die globale Nachfrage. Der Standort Deutschland ist aufgrund des hohen Verflechtungsgrads der hiesigen Wirtschaft einer der Hauptprofiteure der Globalisierung. Deshalb leidet er auch stärker unter Lieferkettenschwierigkeiten und außenpolitischen Spannungen, die den Welthandel beeinträchtigen. Das Ende der russischen Gas- und Öllieferungen ist in dieser Hinsicht nur der am stärksten ins Auge stechende Aspekt eines allgemeineren Problems. Exportorientierung und Industrielastigkeit sind für den deutschen Standort unter den veränderten Bedingungen nicht mehr Segen, sondern Fluch.

Die Perspektiven der deutschen Wirtschaft sind aus diesen Gründen trübe. Die allgemeine Krise der Weltwirtschaft wirkt sich aufgrund der besonderen Standortstruktur hierzulande schärfer aus als andernorts. Dass die Vertreter der Industrie in dieser Situation in Wehklagen ausbrechen und ihre politischen Fürsprecher sich alarmiert zeigen, überrascht nicht.

Die derzeitige Debatte hat allerdings insofern gespenstisch provinzielle Züge, als die eigentlichen Ursachen der Misere kaum eine Rolle spielen. Der eingangs erwähnte Gesamtmetall-Vorsitzende Stefan Wolf spricht zwar von »schlechten wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen«, auf die weltwirtschaftlichen Umstände verschwendet er in seinem Interview jedoch keine Silbe. Stattdessen macht er dem Publikum weis, die Krise sei hausgemacht, und stellt die angeblich wirtschaftsfeindliche Politik der Bundesregierung an den Pranger.

Wolf dürfte sich über die makroökonomischen Gründe der Wirtschaftsmisere durchaus im Klaren sein. Gegen die kann die bundesdeutsche Politik aber wenig ausrichten; ergo gibt es wohl das Kalkül, die Gunst der Krisenstunde wenigsten verteilungspolitisch zu nutzen. Der Vorstandsvorsitzende der Telekom, Tim Höttges, setzte noch eins drauf. Obwohl sein Konzern hierzulande nach wie vor gut verdient, drohte er wegen der angeblich viel zu niedrigen Preise für Telekommunikationsdienstleistungen mit Abwanderung. »Noch investieren wir patriotisch«, ließ er verlauten. In den USA bringe jeder Kunde aber dreimal so viel Umsatz wie in Deutschland, weil hierzulande der Staat den Wettbewerb unnötig anheize.

Wer die Forderung, die übrige Gesellschaft möge doch gefälligst dem eigenen Konzern Zusatzgewinne finanzieren, derart dreist formuliert, dürfte sich nicht viele Freunde machen – kann sich aber durchaus auf die Bundesregierung verlassen. Strittig ist nur, auf welchen Weg das geschehen soll und wie weit man dabei gehen will. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) plädiert für eine Subventionierung des Industriestroms. Den privaten Haushalten sind die gestiegenen Energiepreise zuzumuten, der Industrie offenbar nicht. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner bläst zur ordnungspolitischen Großoffensive: Energiesteuer und sonstige die Industrie belastende Steuern runter und konsequent an den Bedürfnissen der Industrie orientierte Genehmigungsverfahren – alles, was das neoliberale Herz schon immer begehrte, soll jetzt Wirklichkeit werden. Den Standort wird das nicht retten, die soziale Aufspaltung im Land bekommt aber eine neue Qualität.