28.12.2023 

Pisa setzt falsche Akzente für die Lernkultur

Deutsche Schüler:innen schnitten bei der Pisa-Studie gar nicht so schlecht ab, wie behauptet wird

Von Peter Samol

(Zuerst erschienen in der Jungle World 2023/51 vom 21.12.2023)

Die Ergebnisse der jüngsten Pisa-Studie zeigen ein sinkendes Leistungsniveau deutscher Schüler:innen. Deren Fähigkeiten sind aber längst nicht so schlecht, wie sie meist dargestellt wurden. Vielmehr sollte das Prinzip der Leistungsbewertung in den Blick genommen werden.

In Deutschland ist man sich darüber einig, dass man beim jüngsten Pisa-Test schlechte Ergebnisse erzielt hat. Die deutschen Schüler:innen schnitten im internationalen Leistungsvergleich im Jahr 2022, wie die »Tagesschau« berichtete, so schlecht ab »wie nie«. Im Vergleich zur vorigen Studie 2018 verschlechterten sich die Leistungen demnach in Mathematik, im Lesen und in den Naturwissenschaften deutlich. Zwar haben sich die Leistungen in diesen drei Bereichen in vielen der über 70 Länder verringert, die an der unter der Schirmherrschaft der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erstellten größten internationalen Vergleichsstudie dieser Art teilnehmen, in Deutschland seien die Leistungseinbußen jedoch »überdurchschnittlich groß«.

Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass hiesige Schüler:innen gar nicht so schlecht abgeschnitten haben und im Bereich Naturwissenschaften sogar signifikant über dem OECD-Mittelwert liegen. Die mittlere Punktzahl lag OECD-weit bei 485, die deutschen Schüler:innen erreichten 492. In den beiden anderen Bereichen erreichen sie fast genau den Mittelwert. Das ist im Grunde gar nicht schlecht. Zwar ist insgesamt der OECD-Mittelwert gesunken, das dürfte aber mindestens teilweise der Covid-19-Pandemie und den damit verbundenen Unterrichtsausfällen geschuldet sein.

Offenbar kratzt es schwer am deutschen Selbstverständnis, nur Durchschnitt zu sein. Das lässt jedoch eher auf ein fragwürdiges Überlegenheitsgefühl schließen. In diesem Zusammenhang wird regelmäßig behauptet, dass Migrantenkinder den deutschen Durchschnitt verdürben. So sagte der ehemalige Lehrerverbandspräsidenten Josef Kraus im Interview mit Bild, das Problem sei »vor allem importiert«. Doch statt Zugewanderte als Sündenböcke zu markieren, sollte man sich lieber Gedanken darüber machen, wie man die mangelnde Integration ihrer Kinder behebt. Sie haben es besonders schwer, weil es in Deutschland keine systematische Herangehensweise an Sprachprobleme gibt.

Generell bestimmt hierzulande die Herkunft mehr als anderswo den Bildungserfolg. In Deutschland erreichen nur knapp 15 Prozent der Erwachsenen mit Eltern ohne Abitur ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Im Durchschnitt der meisten OECD-Länder sind es 21 Prozent; in Neuseeland schließen vergleichsweise 39 Prozent derjenigen ein Studium ab und in Finnland 34 Prozent.

Wer die Defizite der notorisch unterfinanzierten Schulen nicht durch eigenes Wissen oder Nachhilfeunterricht kompensieren kann, wird allein gelassen. Der Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Florian Fabricius, beziffert die nötigen, aber ausstehenden Bildungsinvestitionen auf 44 Milliarden Euro. Auch ein seit Jahren andauernder und sich absehbar noch verstärkender Lehrer:innenmangel bleibt nicht folgenlos. In den kommenden Jahren werden Tausende von Lehrkräften in den Ruhestand gehen, für die es viel zu wenig Nachwuchs gibt.

Das dreigliedrige Schulsystem, das es weltweit nur in Deutschland und Österreich gibt, ist auch nicht gerade hilfreich. Es ist mehr auf das Sortieren der Schüler:innen als auf deren Förderung angelegt. Es beruht auf einem historischen Kompromiss, der unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Konservativen und Sozialdemokraten geschlossen wurde, und gehört längst abgeschafft. Fast alle anderen Länder beschulen ihre Kinder bis zur zehnten Klasse in ein und demselben Schultyp.

Schule ist die erste Institution im Leben der Menschen, die sie systematisch nach ihrer Leistung bewertet. Nach feststehenden Lehrplänen müssen alle Kinder den Schulstoff zur gleichen Zeit erwerben, bei ständiger Bewertung ihrer Mitarbeit und regelmäßiger Abfrage durch schriftliche Tests. Das Ergebnis ist ein teaching to the test, das vor allem aus stumpfem Lernen und der Wiedergabe konfektionierter Lerninhalte besteht. Die laufende Bewertung verschiebt den Lerneifer von den Inhalten auf die Bewertung selbst. Viele Kinder lernen nur auf Klassenarbeiten hin, um anschließend alles wieder zu vergessen, weil der Kopf frei für die nächste Arbeit sein muss. Kritische Fragen sind bei alldem nicht vorgesehen; sie entsprechen nicht der Abfragbarkeit und sind daher nicht prüfungsfähig.

Dabei ist eine ständige Leistungsbewertung keine Selbstverständlichkeit für gelingende Lernprozesse. Ginge es wirklich darum, Wissen und Können von einer Generation an die nächste weiterzugeben, dann wäre das Lernen am Verstehen der Inhalte orientiert. Das braucht vor allem Zeit, die aber gegenwärtig primär für Tests und Bewertungen draufgeht.

Auch der Pisa-Test beruht auf dem Schema der Erzeugung und Bewertung abfragbaren Wissens. Indem sich die teilnehmenden Länder danach richten und ihre eigenen Kinder diesem Regime unterwerfen, ist auch hier teaching to the test die unvermeidbare Folge.