02.05.2024 

Antisemitismus und Transfeindlichkeit. Das Begehren der hassenden Subjekte (Working Paper 3)

von Lara Wenzel

Working Paper Nr. 3, Mai 2024
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Inhalt

1. Einleitung
2. Antisemitismus, Queer- und Transfeindlichkeit als historische Nachbarn
3. Psychoanalytische Idealtypen und ihre Vorurteile
3.1 Die Ideologien des Begehrens
3.2 Libidinöse Typen nach Freud
a) Der obsessive Typ und seine Vorurteile
b) Der hysterische Typ und seine Vorurteile
c) Der narzisstische Typ und seine Vorurteile
4. Phantombesitz und Queerfeindlichkeit
5. Schluss
6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Nach zähen Diskussionen hat die Ampelkoalition das überfällige Selbstbestimmungsgesetz auf den Weg gebracht. Im November 2024 soll es das mehrfach als verfassungswidrig erklärte Transsexuellengesetz ablösen. Während die Änderung des Geschlechtseintrags zuvor nur mit einem psychologischen Gutachten und einem gerichtlichen Beschluss in einem langen, teuren und demütigenden Verfahren möglich war, soll der Vorgang nun den Vorgaben des BVerfG gemäß vereinfacht werden. Aus rechtskonservativen, aber auch feministischen Kreisen regte sich Widerspruch: Das neue Gesetz öffne Tür und Tor für (potenzielle) Straftäter, die so Zugang zu Frauen-Schutzräumen erlangen würden. In der differenz-feministischen Zeitschrift Emma warnte die Autorin Chantal Louis vor den „lebensfernen Propagandisten der Transideologie”, die es „Männern” ermöglichen wollten, in die Frauen-Sauna einzudringen. (Louis 2023) Die Angst vor Gewalt verbindet sich in der Kritik des Selbstbestimmungsgesetzes mit dem Schreckgespenst einer Trans- oder Queerlobby, die mit großem politischem Einfluss ihre Interessen gegen die ‚normalen’ Leute durchsetze. Wie in antisemitischen Verschwörungstheorien zieht ein Raunen durch die Vorurteile der Trans- und Queerfeinde.

Der Hass gegen trans Personen und im Speziellen gegen transfeminine Personen ähnelt oder verbindet sich mit antisemitischen Verschwörungstheorien. Wie mit der Theorie von Elisabeth Young-Bruehl gezeigt wird, finden sich im Sammelbecken der Queer- und Transfeindlichkeit unterschiedliche Vorurteilstypen, die in der Psyche der hassenden Subjekte unterschiedliche psycho-soziale Funktionen erfüllen. Eine positive Bestimmung von Queerness und Transness bleibt aus, da die Begriffe hier nicht affirmativ, sondern im Sinne Gruppen konstruierender Vorurteile als Fremdzuschreibungen verwendet werden.

Der Konnex zwischen Antisemitismus und Queer- und Transfeindlichkeit wurde bereits von anderen Theoretiker:innen bemerkt. (Joaquina 2021; Kracher 2021; Stögner 2008) Die Feststellung einer solchen Verwandtschaft, die bislang auf historischer Ebene erfolgte, ist ein wichtiger Schritt, um diese Vorurteile zu analysieren, bleibt aber unzureichend, wenn es darum geht zu verstehen, warum diese Vorurteile die gleiche Form annehmen. Weiter hilft bei dieser Frage der Ansatz von Young-Bruehl, der Vorurteile auf die Begehrensstruktur und Abwehrmechanismen der Subjekte zurückführt. So wird nachvollziehbar, welche Funktion(en) Antisemitismus und Queer- und Transfeindlichkeit in der Psyche der hassenden Subjekte einnehmen. In einem Ausblick, der an die Überlegungen von Eva von Redecker zum Phantombesitz anknüpft, wird deutlich, wie die verschiedenen Vorurteilstypen im kapitalistischen Produktionsprozess entstehen.

2. Antisemitismus, Queer- und Transfeindlichkeit als historische Nachbarn

Die Verbindung zwischen Antisemitismus und Transfeindlichkeit wurde bereits von einigen queer-feministischen Autor:innen gezogen: Veronika Kracher stellt fest, dass das Geraune um eine ‚LGBTQ-Lobby‘, die große finanzielle Mittel und gesellschaftlichen Einfluss habe, an antisemitische Verschwörungserzählungen erinnere. (Kracher 2021) Auch dort lenke eine kleine Gruppe im Verborgenen das Geschick der Welt. Verbreitet sei diese Theorie in rechtskonservativen, rechtsradikalen, aber auch in linken Kreisen. Ein Teil der queerfeindlichen Verschwörungstheorie sei es, dass hier eine jüdisch konnotierte Lobby agiere, um den ‚Genozid der weißen Kernfamilie’ herbeizuführen. Kracher fasst die Ideologie zusammen:

„Schuld an Feminismus und queerer Propaganda, und somit den sinkenden Geburtenraten und dem anscheinend unaufhaltsamen Niedergang der weißen Rasse sind nämlich die jüdischen Kommunisten der Frankfurter Schule.“ (Kracher 2021)

Das Motiv, dass die von außen eindringende Kritische Theorie der Ursprung queerer Propaganda sei, findet sich besonders in den USA. Im Occidental Observer, einem Online-Magazin der extremen Rechten, führt Andrew Joyce diese Schuldzuweisung aus: Der Einfluss der Frankfurter und exemplarisch Adornos Forderung nach einem gesellschaftlichen Zustand, in dem man ohne Angst verschieden sein kann, führe zur Ausdifferenzierung von Identitätszuschreibungen und dem Untergang der heteronormativen Binarität, heißt es bei ihm.

„By subtly supporting the position of the socially and sexually deviant, these Jewish figures could gain acceptance or inconspicuousness in the newly atomized society, while simultaneously undermining the very health of the homogenous nation“ (Joyce 2015)

Die Unterminierung von dem, was männlich und weiblich sei, zerstöre die „gesunde” Familie und dränge die Bevölkerungsgruppe, die an diesen konservativen Werten festhalten will, schließlich in den Genozid. In seinem Artikel intellektualisiert er seine queerfeindliche und antisemitische Ideologie, in dem er eine Geschichte jüdischer Sexologen konstruiert. Deren Einfluss sei schuld an der Zersetzung traditioneller Normen und der Beziehung zwischen den Geschlechtern. Auch zentrale Akteur:innen der Gender Critical Bewegung verbinden Transfeindlichkeit mit antisemitischen Verschwörungstheorien. So fragt Jennifer Bilek in einem Artikel Is humanity ready for LGBTQ+ tech babies and the full erasure of women from reproduction? (Bilek 2023), und versucht die vermeintlichen Geldgeber:innen der LGBTQ-Agenda zu enttarnen.1

Ausgehend von zeitgenössischen und historischen Quellen der extremen Rechten, sieht Kracher die Verbindung dieser Vorurteile ebenfalls historisch begründet. Bereits in der nationalsozialistischen Ideologie seien Jüd:innen mit einer devianten Sexualität verknüpft gewesen: „Das Jüdische wird in antisemitischen Diskursen nach wie vor mit dem Queeren und Perversen gleichgesetzt“ (Kracher 2021), schreibt Kracher. Zentral ist für sie das Feindbild Magnus Hirschfeld. Der jüdische Marxist gründete in der Weimarer Republik das Institut für Sexualwissenschaften, arbeitete an der Entstigmatisierung von Homosexualität und prägte die Begriffe Transvestie und Transsexualität. Mit der Machtübergabe an die Nazis wurde das Institut zerschlagen und seine Publikationen und Forschungsunterlagen in der Bücherverbrennung am Brandenburger Tor wurden öffentlich vernichtet. (Cohen 2018)

Wie Kracher betont auch die Autorin Joaquina die historische Entwicklung von transfeindlichen und antisemitischen Vorurteilen:

„When the Nazis gained power, they set to work destroying trans culture and research that thrived in the Weimar Republic era, a fact which has been deliberately erased by anti-trans campaigners. The modern alt-right, meanwhile, views LGBT+ rights as an element of a Jewish ‘Cultural Marxist’ plot to ruin western civilisation.“ (Joaquina 2021)

Mit dieser historischen Rekonstruktion der Vorurteile können die Autorinnen erklären, warum ein Konnex zwischen Queerfeindlichkeit und Antisemitismus besteht, aber nicht, warum sie die gleiche Form annehmen. Außerdem liegt in der geschichtlichen Konstruktion die Gefahr der Vereindeutigung. Sowohl die bürgerliche Prüderie und Familie als auch die freizügige Sexualität in der Weimarer Republik wurden im Nationalsozialismus als jüdisch abgelehnt. Während ihnen besonders in der Endphase der Weimarer Republik eine Überschreitung der Geschlechtergrenzen vorgeworfen wurde, konnten Juden in der nationalsozialistischen Ideologie auch als besonders patriarchal und als „Ersatzfigur für den ödipalen Vater” (Stögner 2008, 77–78) der Eigengruppe dargestellt werden.2 In der Ideologie von Joyce taucht diese Dimension nur in der zugeschriebenen Übermacht einer queeren Lobby auf, aber der Vorwurf von Prüderie verschwindet. Die Angst vor der Überschreitung steht im Vordergrund der konstruierten Vorgeschichte.

Nähert man sich wie Joaquina und Kracher aus historischer Perspektive der Frage, warum Antisemitismus und Queerfeindlichkeit ähnliche Strukturen ausbilden, kommt man schnell zu einer Vermischung oder Gleichsetzung beider Diskriminierungsformen. Allerdings kann so nicht beschrieben werden, warum diese Verknüpfung heute von rechten Akteur:innen so stark gezogen wird und warum Queerfeindlichkeit Ängste mit dem Antisemitismus teilt. Auch bleibt ungeklärt, warum Queer- und Transfeindlichkeit in linken und feministischen Kreisen auftritt, die sich selbst als gegen Antisemitismus sensibilisiert bezeichnen würden. Offen bleibt, welches Begehren hinter Queer- und Transfeindlichkeit steht und warum diese Vorurteile die Struktur antisemitischer Verschwörungstheorien annehmen.

In den historischen Rekonstruktionen erscheinen Queer- und Transfeindlichkeit als Baustein einer rechten antisemitischen Verschwörungstheorie, bei der Jüd:innen als führende Akteur:innen benannt werden. Das ist ein wichtiger Analysebaustein, aber diese Vorurteile können nicht hinreichend verstanden werden, wenn sie als bloße Unterformen oder Bestandteile von Antisemitismus beschrieben werden. Trans- und Queerfeindlichkeit können sich außerhalb dieses verschwörungstheoretischen Rahmens äußern und dennoch eine antisemitische Struktur und Eigendynamik annehmen. Dass beide Vorurteile eine ähnliche Struktur aufweisen können, verweist nicht darauf, dass das eine dem anderen übergeordnet wäre. Sie gleichen einander, weil sie in der Psychoökonomie der Subjekte die gleichen Funktionen erfüllen.

3. Psychoanalytische Idealtypen und ihre Vorurteile

Elisabeth Young-Bruehl, die in The Anatomy of Prejudices die Pluralität der Vorurteile und ihrer Mischformen betont, beschreibt, von Freud ausgehend, drei Idealtypen der psychischen Organisation, die je eigen organisierte Vorurteile ausbilden. Damit wendet sie sich einerseits gegen ein übergeneralisiertes Verständnis des autoritären Charakters, der einförmiger Ursprung aller Vorurteile sei, aber auch gegen eine zu starke Ausdifferenzierung der Diskriminierungen, in der deren Unvergleichbarkeit betont werde. Die von ihr beschriebenen Typisierungenversteht sie als Instrument, Vorurteile unter dem Gesichtspunkt ihrer Psychogenese besser vergleichen, kategorisieren und verstehen zu können. Warum nimmt der Hass von Subjekten eine bestimmte Form an? In Young-Bruehls Bearbeitung dieser Frage wird deutlich, dass das Objekt des Hasses flexibel ist und sich entsprechend rechtlichen, kulturellen oder ökonomischen Veränderungen verschieben kann. Um verschiedene Facetten von Trans- und Queerfeindlichkeit im Vokabular Young-Bruehls als Begehrensstrukturen nachvollziehen zu können, stelle ich folgend die Systematik der drei Idealtypen und der korrespondierenden Vorurteilsstruktur vor.

3.1 Die Ideologien des Begehrens

Trans- und Queerfeindlichkeit entsprechen in Young-Bruehls Systematik Orektizismen, nach dem griechischen Wort orektikos (begehrenswert). Anders als Ethnozentrismen, die sich auf Homogenität und Traditionen von Gruppen beziehen, sind Orektizismen Ideologien des Begehrens (ideologies of desire). Darunter fallen Vorurteile wie Antisemitismus, Rassismus, Sexismus oder Homophobie, die wie bei Trans- und Queerfeindlichkeit mit verschiedenen Ängsten und Wünschen der hassenden Subjekte korrespondieren. (Young-Bruehl 1998, 185)

Während Ethnozentrist:innen für den Erhalt ihrer Vorurteile keine institutionalisierten Begründungen brauchen, konstruieren Orektizisten eine ursprüngliche Legitimation: „The orectisist does, however, believe – desire – that race is fate, that anatomy is destiny, that superiority is biological and heritable.” (Young-Bruehl 1998, 193) Orektizisten reicht es nicht, diese Überzeugungen informell als Traditionen zu beschwören und weiterzugeben. Sie sollen in Gesetzen, wie den Jim-Crow-Laws oder dem Transsexuellengesetz, festgeschrieben werden. In dieser Form der Vorurteile werde nicht eine Wir-Gruppe gegen das Außen verteidigt, sondern erst durch die geteilten Abwehrmechanismen entstehe eine Gruppe, auf die sich gemeinsam bezogen werden könne.

Orektizisten projizieren auf andere Gruppen, dass diese ihr eigenes bewusstes oder unbewusstes Begehren ausagieren. Anziehung schlägt dabei gemäß dem von Freud beschriebenen Verfolgungswahn3 in Hass um: „A ‘they hate me [us]’ replaces an ‘I [we] hate them’, which may well have grown up on the wreckage of an ‘I [we] love them’.” (Young-Bruehl 1998, 189) In diesem Mechanismus zeigt sich der Kern der orektischen Vorurteile: Sie schützen davor, die eigenen Wünsche, Schuldgefühle und Stimmen des Über-Ichs anzuerkennen.

In ihrer Beschreibung der wahnhaften Projektion ist Young-Bruehl nah bei der Theorie des autoritären Charakters von Adorno und Horkheimer, wie sie in der sechsten These der „Elemente des Antisemitismus“ dargelegt wird. Da heißt es, das Pathische am Antisemitismus sei der Ausfall der Reflexion in der falschen Projektion. Das Subjekt

„verliert die Reflexion in beide Richtungen: da es nicht mehr den Gegenstand reflektiert, reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert so die Fähigkeit zur Differenz. Anstatt der Stimme des Gewissens hört es Stimmen; anstatt in sich zu gehen, um das Protokoll der eigenen Machtgier aufzunehmen, schreibt es die Protokolle der Weisen von Zion den andern zu.“ (Horkheimer und Adorno 2022, 199)

Das Innere wird nach außen projiziert, so dass noch das Vertrauteste feindlich erscheint. Die paranoische Projektion ist von der Kastrationsangst motiviert. Die „Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt“ ̶diese seien häufig homosexueller Art ̶ schlägt in Aggression um. Die Kastrationsangst wird zum „allgemeine[n] Zerstörungsdrang“. (Horkheimer und Adorno 2022, 201; vgl. Poßner 2023)

Die Herausbildung von Vorurteilen setzt nach Young-Bruehl keine Pathologie voraus. Sie werden von ‚normalen Menschen’ produziert, und sie helfen ihnen, ihre (relative) Normalität aufrechtzuerhalten. Diese Abwehrmechanismen tragen dazu bei, Impulse zu kontrollieren, sich selbst zu regulieren und die widerstreitenden Kräfte der Psyche auszubalancieren. Bei psychotischen Personen werden die Vorurteile und ihre Struktur integraler Bestandteil der Psychose. (Young-Bruehl 1998, 209)

3.2 Libidinöse Typen nach Freud

Young-Bruehl versteht „Prejudices as social mechanisms of defense“. (Young-Bruehl 1998, 203–4) Da jeder libidinöse Typ nach Freud unterschiedliche Abwehrmechanismen ausbildet, entwickelt er Vorurteile, die anders strukturiert sind und die Subjekte auf verschiedene Weise stabilisieren. Young-Bruehl geht in ihrer Typologie von den libidinösen Typen von Freud aus, die er in den Texten Über libidinöse Typen und Neurose und Psychose entwickelt. Diese Organisationen der Psyche, die sich auf „die Versagung, die Nichterfüllung eines jener ewig unbezwungenen Kindheitswünsche“ (Freud 1982a, 335) zurückführen lassen, befinden sich auf einem Spektrum von leichter Ausprägung bis zur Pathologie und treten in Mischformen auf. Ausgehend von Freud fasst die Autorin die drei Charaktertypen wie folgt zusammen: Die Erotischen Typen (Hysteric) vertreten die Triebansprüche des Es. Sie wollen geliebt werden und treten deshalb häufig in Abhängigkeitsbeziehungen. Beim Zwangstypus (Obsessional) dominiert das Über-Ich. Er kann durch zwanghafte Eigenschaften wie Ordentlichkeit, Sauberkeit oder Disziplin im Arbeitsumfeld erfolgreich sein und die obsessiven Persönlichkeitsmerkmale als Tugenden umwerten. Freud beschreibt ihn als den vorwiegend konservativen Träger der Kultur. (Freud 1980, 270) Narzisst:innen (Narcissists) seien unabhängiger, aggressiver und zeigten Zuneigung, um andere Menschen an sich zu binden. Sie träten als Führungspersönlichkeiten auf, seien zukunftsorientiert und regierten in der Kleinfamilie als Männer über ihre Frauen, die sie als Teil von sich wahrnähmen. Diese libidinösen Typen beschreiben keine Erkrankungen nach Freud, aus ihnen können sich jedoch Krankheitsbilder entwickeln. Erotische Typen ergeben Hysterie, der Zwangstypus kann Zwangsneurosen entwickeln und der narzisstische Typ ist für die Psychose disponiert.

In der Analysesituation zeigen die drei Typen unterschiedliche Abwehrmechanismen: Der hysterische Charakter verdrängt sein Begehren und zeichnet sich häufig durch Schweigen in der Sitzung aus. Der obsessive Typ gibt detailliert über sein Leben Auskunft, aber seine Worte und Schilderungen sind von Emotionen losgelöst. Die Abwehr beim Narzissten richtet sich gegen die Analytiker:innen, die er als minderwertig oder ‚feminin‘ abwertet. (Young-Bruehl 1998, 203–4)

a) Der obsessive Typ und seine Vorurteile

Sauberkeit, Sturheit und Sparsamkeit zeichnen den obsessiven Typ aus, der sich von bürokratischen Institutionen angezogen fühlt. Dort zieht er Genuss aus der Kontrolle und Demütigung anderer, besonders wenn es um die Regulation von Toilettengängen, zum Beispiel in Schulen oder Pflegeeinrichtungen, oder die Beschmutzung anderer in Wort oder Tat geht. Diese Vorlieben lassen sich auf eine Fixierung auf der analen Stufe der Libidoentwicklung zurückführen. Obsessive neigen häufig zu paranoiden Fantasien, anal penetriert oder vergewaltigt zu werden. Andere paranoide Ängste drehen sich um Kontrollverlust, Dreck und die Vorstellung, ausgeraubt zu werden, beschreibt die Psychoanalytikerin. (Young-Bruehl 1998, 213) Sie versuchen das Eindringen von außen – sei es durch Schmutz oder Penetrationsfantasien – durch eine klarere Grenzziehung um das Objekt zu begrenzen. So überträgt sich ihre Vorliebe, alles in Listen und Tabellen zu strukturieren, auch auf die von ihnen als anders markierte Gruppe, die die vermeintlich homogene Ordnung stört:

„No matter what the intensity of their desire to eliminate the others, obsessionals are dedicated to classifying and marking the people and groups against whom their prejudices are directed, for they must make sure that their enemies are identifiable, that they cannot hide in a crowd, or – worse – infiltrate the obsessional’s own group, spreading their pollution through sexual contact or intellectual takeover.“ (Young-Bruehl 1998, 218)

Während sie die infiltrierende Gruppe einerseits als schmutzig abwerten, schreiben sie ihr gleichzeitig große intellektuelle und ökonomische Macht zu. Diese Gruppe sei mächtig genug, die Welt zu lenken und eine internationale Verschwörung zu leiten. Die mit der Projektion auch verbundene Bewunderung dieser Personen als mächtig und intelligent, verkehrt sich in Hass.

Durch die Dominanz des Über-Ichs entwickelt sich die Fantasie, von anderen gesteuert zu werden:

„[T]hey tend toward understanding their thoughts and feelings as under outside control to a dangerous degree. […] [T]heir prejudices allow them to displace their guilty feelings onto others, blame others, and tell themselves that they have been sabotaged, that someone else is making them unhappy.“ (Young-Bruehl 1998, 215)

Typischerweise bildet dieser Persönlichkeitstyp antisemitische Vorurteile aus, die sich als Fixierung auf Jüd:innen als übermächtige Vaterfiguren und den Wunsch, diese zu vernichten, äußert. Sein Hass kann sich aber generell gegen Menschen wenden, die als konstruierte Gruppe zwischen fundamentaler Andersartigkeit und von der Wir-Gemeinschaft ununterscheidbar changieren. Auch die Angst, dass die eigene Gruppe von Homosexuellen infiltriert werden könnte, auf die Young-Bruehl verweist, und Trans- und Queerfeindlichkeit können obsessive Formen annehmen. Wie bereits angeführt, lässt sich so erklären, warum diese Art von Vorurteilen an Antisemitismus erinnert.

Dafür müssen die Vorurteile nicht in eine Verschwörungstheorie eingebaut werden. Neben der Lust daran, sich öffentlich vor trans Personen zu ekeln, ist transmisogyne Penetrationsangst ein zentrales Motiv des obsessiven Vorurteils. Beispiele dafür finden sich nicht nur in rechten und konservativen Kreisen, auch linke und feministische Akteure äußern sich besonders gegenüber transfemininen Personen in obsessiven Strukturen. Auf dem radikal-feministischen Blog Die Störenfriedas beschreibt eine Autorin eine Begegnung mit einer transfemininen Person auf einer Klubtoilette wie folgt:

„Ist mir egal, unter welchen Frauenklamotten dieser Schwanz vor sich hergetragen wird und wieviel Schminke die Person, die ihn trägt, im Gesicht hat. Eine Toilette ist ein intimer, geschützter Rückzugsort. […] Ein Schwanz aber ist eine potenzielle Waffe. Er kann benutzt werden, um Frauen gegen ihren Willen zu penetrieren, vielleicht in einer Situation, in der sie hilflos, ungeschützt oder schlichtweg unachtsam sind.“ (Borchert 2017)

Gerade in feministischen Debatten wird die Toilettenfrage immer wieder zum Streitpunkt. Wie in diesem Zitat von Anneli Borchert tauchen dabei häufig die drei zentralen Fixierungen – Penetration, Analität und Täuschung – des obsessiven Typs auf. Es geht darum, den Zugang zur Toilette zu kontrollieren und zu regulieren, um transfeminine Personen zu demütigen. Der ‚Safe Space‘, den Borchert für sich beansprucht, wird trans Personen abgesprochen. Das gleiche Argument findet sich auch bei vielen rechts-konservativen Gruppen und schlägt sich in einer steigenden Zahl an Übergriffen und diskriminierender Gesetzgebung zum Beispiel in den USA, aber auch in den Lücken des Selbstbestimmungsgesetzes nieder.4 Wie bereits Young-Bruehl am Beispiel des hall pass in Schulen beschreibt, mit dem Toilettengänge von Schüler*innen genehmigt und kontrolliert werden können, bietet dies besonderen Lustgewinn für Anal-Fixierte. (Young-Bruehl 1998, 214)

Ein weiteres wiederkehrendes Motiv stellt der Täuschungsvorwurf dar. „Frauenklamotten” und „Schminke” werden wie eine Verkleidung beschrieben, die über die ‚wahre Natur’ hinwegtäuscht. Der Vorwurf, dass transfeminine Personen eine ‚Falle‘ seien, begegne ihnen häufig beim Dating, beschreibt Aktivistin Felicia Ewert:

„Wir werden als Frauen dargestellt, die Cismänner ‚in die Falle‘ locken wollen würden. Unsere Marginalisierung, die Gewalt, die wir erfahren, wird umgekehrt, und wir werden als die eigentliche Gefahr eingestuft.“ (Sand, Hofmann und Ewert, 70)

Anstatt sich mit dem eigenen Begehren auseinanderzusetzen, kommt es zum Vorwurf der Täuschung und dem Hassobjekt wird projektiv Schuld am eigenen Unbehagen zugesprochen. Die Fantasie, dass die gesellschaftlich wenig einflussreiche Gruppe große Macht oder Gewalt ausübe, kann sich auch in Verschwörungstheorien um die ‚Queer- oder Translobby‘ ausdrücken, wie sie bereits im zweiten Kapitel angesprochen wurden. Sowohl bei der gender-panic in the bathroom als auch beim Vorwurf, transfeminine Personen seien eine Falle für Cismänner, spielen paranoide Penetrationsfantasien eine zentrale Rolle. Ähnlich wie die anti-homosexuellen Kampagnen im Militär, wo es um die Angst vor dem Einschleichen in Einheiten und anale Vergewaltigung ging (Young-Bruehl 1998, 401), fantasieren Obsessive über die doppelte Penetration ihrer privaten Räume und ihres Körpers.

Wenn Antisemit:innen über die Assimilation von Jüd:innen diskutieren, findet sich einerseits der Wunsch, diese sollen in der homogenen Gemeinschaft aufgehen und alles, was sie als jüdisch markiere, aufgeben. Zugleich wird der Versuch der Assimilation als Täuschung und Eindringen in die Volksgemeinschaft gewertet, die mit dem Wunsch, die Hassobjekte zu vernichten, beantwortet werden. Ähnlich erfahren besonders transfeminine Personen, dass von ihnen einerseits erwartet wird, einem heteronormativen Stereotyp von Weiblichkeit zu entsprechen, sich also zu assimilieren. Andererseits wird der Anpassungsversuch als Täuschung entlarvt und ihr Anderssein hervorgehoben, indem sie als ‚verkleidete Männer‘ bezeichnet werden. Darin artikuliert sich das widersprüchliche Begehren des obsessiven Typs, der sich auf der einen Seite ein Wir ohne Unterscheidungen wünscht, auf der anderen die Fantasie einer homogenen Gruppe nur gegenüber einem äußeren Hassobjekt aufrechterhalten kann. Der Wunsch, eins zu sein, geht mit Fantasien der Vernichtung des anderen einher, welches klar markiert sein muss.

Während sich die obsessiven Penetrationsfantasien besonders häufig auf das Hassobjekt transfeminine Personen beziehen, artikuliert sich die Demütigung von transmaskulinen Personen häufig als ein Absprechen der Selbstbestimmung. Sie werden häufig als verwirrte ‚Frauen‘ dargestellt, die vor den eigenen Wünschen geschützt werden müssten.5 Diese Infantilisierungsstrategien korrespondieren stärker mit den Abwehrmechanismen der Hysteriker:innen.

b) Der hysterische Typ und seine Vorurteile

Im Lebenszentrum des hysterischen Typs steht eine familiär strukturierte Gruppe (Kernfamilie, Nation, Organisation). Diese weist eine streng hierarchische, als natürlich begründete Ordnung auf, beschreibt Young-Bruehl. Klassen-Vorurteile oder Rassismus, aber auch die Infantilisierung der eigenen Kinder können in diesen Zusammenschlüssen bestimmende Prinzipien sein. Im Gegensatz zum obsessiven Typ, dem die Vorstellung der abgewerteten Gruppe ausreicht, um Vorurteile aufrecht zu halten, braucht es Kontakt zwischen dem hysterischen Typ und seinem Hassobjekt. Auch hier verkehrt sich das anfängliche Begehren in sein Gegenteil. „They think ‚I hate them’ and repress the contrary ‚I love them’; their ‚I don’t want to be near them’ keeps from consciousness their ‚I want to be near them.’“ (Young-Bruehl 1998, 222) Die Abwehrmechanismen des hysterischen Charakters attackieren die Macht, die die Opfer vermeintlich haben, weil sie ihr Leben zu sehr genießen. Zentral sind dabei: „life’s erotic satisfactions, usually either oral or genital”. (Young-Bruehl 1998, 230)

Um die Gruppen zu bestrafen, die die uneingestandenen erotischen Fantasien des hysterischen Subjekts vermeintlich ausleben, werden sie unterdrückt. Young-Bruehl führt aus, dass die vorurteilsbehafteten Handlungen genderspezifische Ausformungen haben: Männer, die für die öffentliche Sphäre erzogen wurden, zielen häufig auf die Sexualität ihrer Opfer. Sie gehen Affären mit Frauen der unterdrückten Gruppe ein, um ihre sexuelle Überlegenheit gegenüber den Männern zu beweisen. Frauen überbeanspruchen ihre Angestellten (z.B. Sorgearbeiter:innen) in der häuslichen Sphäre oder machen sie mit philanthropischen Gesten abhängig von sich. (Young-Bruehl 1998, 226–27) Angriffe auf die hierarchische Ordnung der Gesellschaft lösen Abwehrreaktionen aus.6 Weil der hysterische Typ Probleme hat, eine klare Abgrenzung zwischen sich (dem Subjekt) und den Objekten aufrechtzuerhalten, stürzt er mit der Erosion von äußeren und von ihm selbst aufrechterhaltenen Strukturen in eine Krise. Das nimmt zum Beispiel die Form von ökonomischen Abstiegsängsten an. (Young-Bruehl 1998, 225)

Auch die Konfrontation mit nicht heteronormativen Lebensformen kann solche Krisen auslösen und schlägt in Queer- und Transfeindlichkeit um. Diese äußert sich bei den Hysteriker:innen als Angst davor, dass die eigene Position in der binären Geschlechterordnung doch nicht so fix sein könnte wie geglaubt. Die als grenzüberschreitend wahrgenommene Sexualität queerer Menschen dient als Projektionsfläche des eigenen, unterdrückten Begehrens. Zwischen Anziehung und Herabsetzung fühlt der hysterische Typ sich in Kontakt mit queeren Menschen von Selbstverlust bedroht und reagiert mit Abwehr.

Wenn queere Kinder und im Besonderen transmaskuline Personen ihr Coming-out haben, wird dem artikulierten Wunsch mit Infantilisierung begegnet. In diesem Alter wisse man noch nicht, was man wolle, und nutze den transgressiven Akt, um vor der eigenen Position zu fliehen. Zum Beispiel stellte Terres des Femmes in einem Positionspapier von 2020 transmaskuline Personen und non-binäre Personen als schützenswerte ‚Mädchen‘ dar, die nicht zur Transition verführt werden dürften. (Sand, Hofmann und Ewert, 78–79)7 Während der Verband Sexismus anprangert und transmaskulinen Personen unterstellt, sie wünschen sich die Transition, um erfahrener Misogynie zu entkommen, entmündigt er Personen, die ihre Selbstbestimmung einfordern. Diesem Paradox liegt eine hysterische Struktur zugrunde, die Positionswechsel in gesellschaftlichen Hierarchien verhindern will.

c) Der narzisstische Typ und seine Vorurteile

Bei allen Menschen liegt nach der Theorie Freuds ein primärer Narzissmus in der Kindheit vor. (Freud 1982b) In dieser Phase nehme sich das Kind als eins mit den Sorgenden wahr. Seine Bedürfnisse werden innerhalb dieser Symbiose befriedigt, weshalb sich das Begehren des Säuglings nicht nach außen richte, sondern in diesem Kreis verbleibe. Erst durch die Erfahrung, dass auch die Sorgenden dem Kind nicht ständig zur Verfügung stehen und als von ihm Unterschiedene eigenständig handeln, entwickele sich die Libido nach außen.

Die Inkonsistenz und Unverfügbarkeit der Sorgenden führt im Ablösungsprozess zu Aggressionen und Wut. Der hier relevante Narzissmus bildet sich – sekundär – als Abwehrreaktion auf diese empfundene Wut heraus. Um sich vor dem als destruktiv empfundenen Außen zu schützen, zieht sich die Libido in das Selbst zurück und lenkt sich nicht auf Objekte. (Young-Bruehl 1998, 231) Narzisstische Charaktertypen sind ehrgeizig, aber dieser Ehrgeiz kann zwei verschiedene Formen annehmen: Einerseits kann Selbstbewusstsein über eigene Erfolge und Macht aufgebaut werden, andererseits stellt auch die Unterordnung unter eine mächtige Person und die Identifikation mit ihren Erfolgen eine Verwirklichung narzisstischer Merkmale dar. In beiden Fällen werden folgende bzw. führende Personen als Erweiterung des eigenen Selbst wahrgenommen:

„Some narcissists lead and some follow: the former exhibit a grandiose sense of self in contrast to the latter’s tendency to idealize and ‘grandify’ others, with whom they then ally and usually identify themselves.“ (Young-Bruehl 1998, 232)

Narzisst:innen beuten andere Menschen in Beziehungen für gewöhnlich aus, um ihren Selbstwert zu erhalten. „Similarly, in the domain of prejudices, narcissistic prejudices involve making use of the targets for the maintenance of self-esteem.” (Young-Bruehl 1998, 233) Solang die anderen in diesen Vorurteilsbeziehungen als Teil des narzisstischen Selbst wahrgenommen werden können, funktionieren sie. Beanspruchen geliebte Personen allerdings ihre Unabhängigkeit oder offenbaren verhasste Personen, dass sie intellektuell überlegen sind, bricht das narzisstische System zusammen. Narzisstische Gruppen handeln häufig sexistisch, auch wenn sie ihren Hass auf Frauen nicht offen benennen, wie es bei Rassist:innen oder Antisemit:innen eher der Fall ist:

„They speak of values, traditions, and standards, which they must protect, without specifying their opponents as a group; it turns out, of course, that women (or, more recently, the feminists) are the real source of the decline and fall of all they hold dear.“ (Young-Bruehl 1998, 235)

Auf die Infragestellung eines männlich-bestimmten Machtanspruchs reagieren Narzissten mit Gewalt. Queere, anti-patriarchale Positionen, die sich gegen Machtansprüche und heterosexistische „Traditionen” wenden, aber auch die (wahrgenommene) Verweigerung sexueller Verfügbarkeit durch trans Personen kann zu aggressiven Reaktionen und Femiziden durch narzisstische Typen führen.

4. Phantombesitz und Queerfeindlichkeit

Mit den Typen Young-Bruehls lässt sich eine Kategorisierung verschiedener Vorurteile vornehmen, mit denen sich die Ausgangsfrage, warum Antisemitismus und Trans- und Queerfeindlichkeit ähnliche Strukturen aufweisen, beantworten lässt. Darüber hinaus ermöglichen die verschiedenen Typen einen nuancierten Blick auf die verschiedenen Formen und ihre Funktion in der Psyche der hassenden Subjekte. Damit lässt sich das Forschungsfeld der Trans- und Queerfeindlichkeit differenzierter aufschlüsseln und für eine intersektionale Analyse öffnen. Allerdings lässt sich die Frage, warum sich diese Vorurteile herausbilden, mit Young-Bruehls Theorie nur auf der Ebene des einzelnen Subjekts beantworten. Um zu erklären, warum einzelne Gruppen zum Vorurteilsträger werden, ist auch eine historische Analyse, wie sie im zweiten Kapitel diskutiert wurde, ein unabdingbarer Baustein. Zwar kann in die Strukturen flexibel ein anderes Hassobjekt eingebaut werden, aber wen es trifft, ist durch historische, soziale oder ökonomische Wahrscheinlichkeiten prädeterminiert. Die tieferliegende Frage, welche Gesellschaften diese Subjektivierungsformen hervorbringen, lässt sich mit The Anatomy of Prejudice nicht zufriedenstellend beantworten. Young-Bruehl stellt einen Zusammenhang zwischen ökonomischen Krisen und obsessiven Vorurteilen her und verweist auf den Sozialchauvinismus der Hysteriker:innen als Reaktion auf eigene Abstiegsangst. Einen grundlegenden Zusammenhang zwischen der psychoökonomischen Struktur und der Funktionsweise einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft macht sie nicht sichtbar. Auch bleibt im Rückbezug auf Freud die Kernfamilie der unhinterfragte Ausgangspunkt ihrer Analyse, den sie dadurch naturalisiert. Dabei liegt es nahe, dass besonders hysterische und narzisstische Vorurteile in der oft hierarchischen Struktur der Familie einen primären Wirkungsort haben.

Im Vortrag „Phantombesitz und Abwehrmechanismen” versucht Eva von Redecker, diese Lücke in Young-Bruehls Theorie zu schließen. Sie beschreibt die Abwehrmechanismen als Versuch, das in sich instabile Subjekt des liberalen Kapitalismus aufrechtzuerhalten. Das Subjekt, das als Eigentümer seines Selbst im Kapitalismus agieren muss, scheitert notwendig an diesem Anspruch. Es ist ständig mit Erfahrungen konfrontiert, in denen sich das Selbst zum Beispiel im Falle von Krankheit oder dem nicht steuerbaren Begehren der Verfügung entzieht. Die Fiktion des Selbsteigentums wird durch die Überzeugung aufrechterhalten, Verfügungsgewalt über andere ausüben zu dürfen. Als Reaktion auf die Abschaffung von juridischen Besitzverhältnissen über Menschen, wie der Sklaverei oder der juristischen Subsumtion von Frauen unter den Ehemann, bilden sich phantasmatische Ersatzobjekte heraus, die sich in Sexismus oder Rassismus niederschlagen.

Die Abwehrmechanismen, die Young-Bruehl beschreibt,lassen sich mit Eva von Redecker als Verteidigungen dieses Phantombesitzes interpretieren. Der narzisstische Charaktertyp weitet die Fiktion des Selbstbesitzes auf seine Anhänger, Cisfrauen, trans Personen und Queers aus und folgt so dem Akkumulationsimperativ im Kapitalismus. Das schließt den Besitzanspruch über diese Personen und die sexualisierte Verfügbarkeit über ihre Körper ein. Hysterische Typen arbeiten daran, die Grenze zwischen sich und als hierarchisch untergeordnet wahrgenommenen Objekten aufrechtzuerhalten, um so ihr Recht auf Kontrolle zu festigen. Damit verteidigen sie zum Beispiel ihren Anspruch auf billige Arbeitskraft von rassifizierten Menschen und ihre politische Vormachtstellung. Genauso funktioniert die Ausbeutung von transfemininen Personen und Unterordnung von queeren Kindern stabilisierend für den hysterischen Typ. Schließlich zieht Redecker auch eine Parallele zwischen Phantombesitz und obsessiven Persönlichkeiten. Wie die anderen Typen wehren sie den Gedanken an den Verlust des Selbstbesitzes ab und entwickeln deshalb paranoide Fantasien von Dieben, Eindringlingen, Parasiten oder einer übermächtigen Queer-Lobby, die ihren materiellen oder ideellen Besitz bedrohen. Dieser Typ kann seine Fiktion eines abgeschlossenen homogenen Selbst und einer ebenso verfassten Wir-Gruppe nur mit der Vorstellung verunreinigender Opfergruppen, die er auslöschen will, erschaffen.8

5. Schluss

Queer- und Transfeindlichkeit sind Teil eines rechten Backlashs, an dem auch linke Bewegungen partizipieren. Ihre Vorurteile nehmen zum Teil eine obsessive Form an und können damit die gleiche Funktion in der Psyche der hassenden Subjekte erfüllen wie Antisemitismus. Darüber hinaus wird in der Darstellung der drei Typen deutlich, dass Queer- und Transfeindlichkeit auch von Hysteriker:innen und Narzisst:innen zur Stabilisierung des Selbst eingesetzt werden kann. Dass diese Vorurteile Teil der verschiedenen Abwehrmechanismen werden können, erhellt, warum es einen so breiten Backlash gegen queere und trans Personen geben kann. Queerfeindlichkeit stellt ein universelles Vorurteil dar, an dem jeder Vorurteilstyp Anteil haben kann. Darüber hinaus bräuchte es, in Anlehnung an die Kritische Theorie, eine weitreichendere Untersuchung, warum sich in diese Vorurteilstypen herausbilden.

Eva von Redeckers Ansatz kann nur ein erster Schritt sein, um die spezifisch kapitalistische Subjektivierungsform und ihre stabilisierenden Vorurteile zu beschreiben. Die von Elisabeth Young-Bruehl formulierten Typen stellen eine gute Grundlage für eine solche Untersuchung dar, da in der Dreiteilung die Spezifika verschiedener Abwehrmechanismen aufgehoben und nicht zu stark verallgemeinert werden, während die strukturelle Ebene ihrer Beschreibung es zulässt, alle Ausformungen zu den gleichen psychoökonomischen Funktionsweisen und gesellschaftlichen Dynamiken in Beziehung zu setzen.

Ich danke Lilith Poßner für zahlreiche theoretische und empirische Hinweise und ein großartiges Lektorat.

Literatur

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Zitation: Wenzel, Lara: Antisemitismus und Transfeindlichkeit. Das Begehren der hassenden Subjekte. Krisis-Working Paper 3, 2024
URL: https://www.krisis.org/2024/antisemitismus-und-transfeindlichkeit

Korrigierte Version vom 5. Mai 2024

1 Ähnliche Topoi bedienen auch die Anti-Trans- und Gender-Critical-Aktivistinnen Janice Raymond und Posie Parker, die in ihrem Kampf gegen Transrechte den Schulterschluss mit Rechten suchen.

2 Zur gleichzeitigen Projektion sexueller Verfügbarkeit und Angst vor unbegrenzter Verfügungsgewalt des anderen im Antisemitismus siehe auch: (Adorno 1969).

3 Indirekt bezieht sich Young-Bruehl an dieser Stelle auf die freudsche Analyse von „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ von Daniel Paul Schreber. Freud sieht im verdrängten homosexuellen Begehren den Kern des Konflikts der Paranoia. Im Verfolgungswahn kehrt sich „Ich liebe ihn“ in „Ich liebe ihn nicht – Ich hasse ihn ja“ um, aber dieser innere Widerspruch kann beim Paranoiker nicht bewusst werden. Er muss zu einer äußeren Wahrnehmung umgebaut, zu einer Bedrohung von außen werden: „Ich liebe ihn ja nicht – ich hasse ihn ja – weil er mich verfolgt“. Das unbewusste Begehren wird, durch die Unmöglichkeit des Bewusstwerdens, zu einer äußeren Bedrohung. (Freud 2007, 186–87) Siehe für eine detaillierte Rekonstruktion das Kapitel zur „Grammatik des Wahns“ in: (Poßner 2022) S. 35ff.

4 In den USA wurden 2015 einige Bathroom-Billls vorgebracht und auch durchgesetzt, die darauf zielten, dass transfeminine Personen nicht mehr sicher öffentliche Toiletten benutzen durften. Zuvor hatten Republikaner und andere konservative Kräfte gegen transfeminine Personen gehetzt und ihnen Übergriffigkeit unterstellt. Das Grundlage und war Teil ihrer rechten, queerfeindlichen Agenda. Zur weiteren Lektüre ist Julia Seranos Artikel „Transgender People, Bathrooms, and Sexual Predators: What the Data Say” zu empfehlen, in dem sie aufzeigt, dass trans Personen statistisch gesehen eher Opfer von Übergriffen und sexueller Gewalt in öffentlichen Toiletten werden und dass gender-inklusive Toiletten die Zahl der Übergriffe senken. Im Gegensatz dazu steigen die Zahlen queerfeindlicher Übergriffe mit der forcierten Bathroom Panic. Des Weiteren zeigt sie den historischen Kontext der Bathroom Panic, in dessen Geschichte auch Homosexuelle mit dem gleichen Vorurteil konfrontiert wurden, sich auf Toiletten übergriffig zu verhalten. (Serano 2021) Siehe auch: (Lopez, o. J.).

5 Ausgebreitet wird dieses Argument gegen die Selbstbestimmung in Abigail Shriers Buch „Irreversibler Schaden. Wie der Transgenderwahn unsere Töchter verführt“, das in Deutschland über den Online-Store des rechten Compact-Magazins erhältlich ist. Die projektive Idee der Verführung steckt schon im Titel. Eine Ausführung zu den Verschwörungstheorien dieser ‚besorgten Eltern‘ findet sich hier: (Serano 2023).

6 In diesem Sinne wird der Erfolg des Arguments, queere Personen seien „Born this way“, verständlich, weil es hysterische Vorurteile beruhigt. Wenn alle queeren Menschen ‚schon immer so waren‘, lässt sich eine Ordnung konstruieren, in der sie auch nach dem Coming-out ihren Platz nicht verändern. Dabei wird die Erfahrung der Fluidität sexueller Anziehung und von Gender negiert. Siehe dazu Greenesmith 2021.

7 Dieses Positionspapier wurde inzwischen aus insbesondere strategischen Gründen zurückgezogen.

8 (Redecker, 0:21:00 – 0:30:00) Siehe auch: (Redecker 2020).