19.03.2024 

Grenzen der Ausbeutung. Der Fachkräftemangel als Folge der veränderten kapitalistischen Produktionsweise

Von Ernst Lohoff

(Zuerst veröffentlicht in der Jungle World 2024/12 vom 14.03.2024 )

Jammern gehört zum Handwerk“ ist seit jeher eines der Lieblingsmottos der Sprecher und Fürsprecher des hiesigen Kapitals. Derartig weinerlich wie derzeit ging es hierzulande aber seit der Gründung der Bundesrepublik selten zu. Ein zentraler Topos im großen Lamento ist schon seit Jahren die Klage über die unzureichende Versorgung „unserer Wirtschaft“ mit „Humanressourcen“.

„Der Fachkräftemangel wird zum Wachstumshemmnis Nummer eins“, ließ Bert Rürup, Chefökonom des “Handelsblatts” bereits während der Coronakrise verlauten. Und die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) präsentierte jüngst einen Fachkräftereport, dem zufolge allein vergangenes Jahr 90 Milliarden Euro an „Wertschöpfung“ aufgrund des Mangels an geeigneten Arbeitskräften ausgeblieben wären. In der “Deutschen Handwerkszeitung” war nun von einer „Dunkelziffer von zwei Millionen offenen Stellen“ die Rede.

Vor allem was die Schlüsseltechnologien angeht, gilt der Fachkräftemangel inzwischen als die Mutter aller Probleme. Während Abermilliarden an Subventionen in den Aufbau einer eigenen Halbleiterindustrie fließen, ist bereits von 300 000 Stellen die Rede, die sich europaweit künftig nicht besetzen lassen. Mit dem Ausscheiden der Babyboomer-Generation aus dem Erwerbsleben und dem damit einhergehenden Ersatzbedarf wird es für die Arbeitgeber noch schwieriger, auf dem Arbeitsmarkt das zu finden, was sie suchen.

Das Problem stellt sich in vielen Bereichen, die Ursachen variieren freilich erheblich. Die Industrie hat primär mit riesigen Matching-Problemen zu kämpfen. Arbeitskräfte gäbe es genug, immerhin sind derzeit 2,8 Millionen Erwerbslose in Deutschland registriert. Aber es fehlt an solchen mit derzeit gefragten Qualifikationen. Schon Marx hat die Glanzleistung des Kapitals dargestellt, zugleich Massenarbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel zu produzieren. Dieser Widerspruch, so Marx, ergebe sich aus der Bewegung des Kapitals selbst. „Es braucht größere Massen Arbeiter im frühen Alter, geringere im männlichen.“ Über „Mangel an Händen“ werde „zur selben Zeit geklagt, wo viele Tausende auf dem Pflaster liegen, weil die Teilung der Arbeit sie an bestimmte Geschäftszweige kettet“.

Das Problem allerdings, dass das Kapital einen anderen Typus von Arbeitskraft sucht, als es auf dem Arbeitsmarkt vorfindet, hat eine ganz andere Dimension angenommen als in der Zeit, als die Fabrikarbeit noch den Dreh- und Angelpunkt aller Kapitalverwertung bildete. Qualifikationen haben sich seitdem extrem ausdifferenziert. Sie verändern sich mit dem technologischen Wandel rasant. Seitens des potentiellen “Humankapitals” und der Bildungsinstitutionen bedürfte es schon hellseherischer Fähigkeiten, um in Sachen Ausbildung passgenau die Bedürfnisse des Kapitals zu bedienen. Massenhaft veralten Qualifikationen und sind nicht mehr gefragt. Zugleich reißen andernorts Lücken auf. Hinzu kommt die Verlagerung des Qualifikationserwerbs. Im Fordismus fand dieser im Wesentlichen noch in der Arbeitswelt selbst statt. Seine Eckpfeiler waren Lehrzeiten und die im Laufe des Erwerbslebens wachsende Berufserfahrung. Heutzutage ist Aus- und Weiterbildung dagegen zu erheblichen Teilen von der Berufsausübung entkoppelt und erfolgt in ausgegliederten Einrichtungen. Das Kapital verlangt möglichst unmittelbar einsetzbare Arbeitskräfte und zahlt dafür den Preis, dass die Berufsausbildung tendenziell später beginnt und Unterbrechungen erfährt.

Bei der Lektüre der hiesigen Presse könnte man den Eindruck gewinnen, die missliche Lage bei der Fachkräftegewinnung wäre ein Spezialproblem des deutschen Industriestandorts. Im europäischen Vergleich mag die Lage hierzulande zwar zugespitzter sein als andernorts. Das liegt aber in erster Linie am größeren Gewicht des industriellen Sektors und an einem Bildungssystem, bei dem zu viele bereits in jungen Jahren aussortiert werden.

In den USA, wo die Regierung derzeit ein Reindustrialisierungsprogramm verfolgt und massiv in die marode Infrastruktur investiert, ist die Lage weit dramatischer als in Deutschland. Und perspektivisch betrachtet haben die ostasiatischen Wirtschaftsstandorte die schlechtesten Karten. In Deutschland bremst die Zuwanderung den Überalterungsprozess. Die Länder des Fernen Ostens haben schon seit Jahrzehnten weltweit die mit Abstand niedrigste Geburtenraten und leisten sich gleichzeitig bis dato eine rigide Migrationspolitik. Japan und Südkorea versuchen zwar neuerdings umzusteuern. Angesichts besonders hoher sprachlicher und kultureller Hürden dürfte Ostasien aber schwerlich im Wettbewerb um knappe „Humanressourcen“ den etablierten Einwanderungsländern den Rang ablaufen.

Linderung kommt wohl eher vom Vormarsch der Künstlichen Intelligenz und dem immensen Rationalisierungspotential, das dieser innewohnt. Der beschleunigte technologische Wandel, der für den Fachkräftemangel wesentlich verantwortlich ist, wirkt diesem wiederum insofern entgegen, als derzeit knappe Formen von Kopfarbeit morgen wiederum wegrationalisiert werden dürften.

In anderen Sektoren als der Industrie sieht es ähnlich schlimm, wenn nicht gar schlimmer aus. Der öffentliche Dienst etwa ist lange schon nicht mehr in der Lage, seine Aufgaben fristgerecht und im vollen Umfang zu erfüllen. Als die Bundesregierung im vergangenen Jahr das Wohngeld reformierte und den Kreis der Berechtigten ausweitete, schossen die Bearbeitungszeiten für die Anträge auf bis zu zwei Jahre in die Höhe. Den Ämtern fehlte schlicht das Personal für die zusätzlich anfallende Arbeit.

360 000 Stellen sind derzeit im öffentlichen Dienst unbesetzt. Berechnungen der Beratungsgesellschaft McKinsey zufolge werden bis 2030 etwa 840 000 Vollzeitkräfte fehlen. Besonders gravierend wird sich demnach der Mangel an IT-Fachkräften entwickeln: 140 000 Stellen werden in sieben Jahren in dem Bereich unbesetzt sein.

Nicht besser sieht es in der Pflege aus. Hier sind es vor allem die Arbeitsbedingungen, die die Beschäftigten in die Flucht schlagen. Schon vor der Covid-19-Pandemie verließen Pflegekräfte im Durchschnitt nach siebeneinhalb Jahren den Beruf. Zwar ist die während der Pandemiezeit befürchtete Beschleunigung der Personalflucht ausgeblieben, der Tod auf Raten geht jedoch weiter.

Eine Trendwende würde eine konzertierte Aktion zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen voraussetzen. Einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung zufolge wären mindestens 300 000 Vollzeitkräfte zur Rückkehr in die Pflege bereit, wenn es in dieser Hinsicht sichtbare Fortschritte gäbe. Solange weite Teile des Pflegesektors jedoch in privater Hand bleiben und somit profitmaximierend wirtschaften, werden die Arbeitskräfte wohl weiterhin ausgepresst wie Zitronen.

Die Politik scheint derzeit aber drauf und dran zu sein, den Teufelskreis von schlechten Arbeitsbedingungen und Berufsflucht, die die Arbeitsbedingungen der Verbliebenen weiter verschlechtert, auf den gesamten öffentlichen Sektor auszuweiten. Angesichts des akuten Lehrermangels schlug die Kultusministerkonferenz vergangenes Jahr vor, das Stundenkontingent zu erhöhen und die Teilzeitmöglichkeiten zu beschränken. Das würde zwar eine kurzfristige Entlastung bringen, den Beruf aber noch unattraktiver machen und den Nachwuchsmangel verewigen.

Als die Angehörigen der Babyboomer-Generation ihre Berufswahl trafen, sprachen vor allem zwei Gesichtspunkte für den öffentlichen Sektor: Während der damaligen Massenarbeitslosigkeit versprach ein Beruf beim Staat oder der Kommune Arbeitsplatzsicherheit. Fernerhin war in diesem Bereich die Arbeitshetze geringer als in der Privatwirtschaft. Für diese Vorteile waren viele bereit, finanzielle Abstriche in Kauf zu nehmen.

Für die, die heute vor der Frage der Berufswahl stehen, spielt die Angst vor Arbeitslosigkeit vorderhand kaum mehr eine Rolle und von einer geringeren Arbeitsbelastung kann immer weniger die Rede sein. Wenn die Politik ausgerechnet den öffentlichen Sektor zur No-go-Area des Arbeitsmarkts macht, dann bereitet sie ihrer Handlungsunfähigkeit den Boden.

Der Generationswechsel würde eigentlich einen Paradigmenwechsel erfordern. Es wäre hohe Zeit für eine gesellschaftliche Debatte darüber, womit Menschen ihr Leben zubringen, und dafür, mit der Verschwendung menschlicher Lebenszeit auf “bullshit jobs” (David Graeber) Schluss zu machen. Stattdessen wird versucht, die gnadenlose Übernutzung von Arbeitskraft, die schon die vergangenen Jahrzehnte kennzeichnete und aus den westlichen Gesellschaften Burn-out-Gesellschaften machte, weiterzutreiben. Die erreicht genauso ihre Grenzen wie die Übernutzung der Natur.