19.09.2025 

Herbst der Drohungen. Die Bundesregierung will Einschnitte in den Sozialetat

Von Minh Schredle

Ursprünglich unter einem anderen Titel erschienen in der Jungle World 2025/37 vom 11.09.2025

Die Bundesregierung will 30Milliarden Euro einsparen und stellt zur Diskussion, wie viel Sozialstaat noch bezahlbar sei. Der Arbeitgeberpräsident fordert »schmerzhafte« Maßnahmen.

Die deutschen Wirtschaftsverbände zeigen sich ungeduldig. Anfang Juli kündigte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) im Interview mit der ARD einen »Herbst der Reformen« an. Schon am 22. August veröffentlichte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger noch in der parlamentarischen Sommerpause eine Pressemitteilung. Dulger monierte, er könne keine Reformen, sondern lediglich einen »Herbst der Kommissionen« erkennen, dabei brauche es nun »teils schmerzhafte, aber notwendige Maßnahmen«. Man dürfe sich »hier nicht wegducken«, es mangele »an Politikern, die die Dinge ansprechen und eine ehrliche Debatte anstoßen«.

Als einzige positive Ausnahme erwähnt Dulger Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU). Diese hatte Ende Juli gemahnt: »Der Kipppunkt rückt immer näher.« Gemeint war nicht der Klimawandel, sondern deutschen Sicherungssysteme.

Kürzlich hat Reiche einen Beraterkreis eingesetzt, der aus vier neoliberalen bis marktradikalen Ökonom:innen besteht. Mit dabei ist die sogenannte Wirtschaftsweise Veronika Grimm, die sich gerade erst gegen die anstehende Erhöhung des Mindestlohns ausgesprochen hat und nebenbei im Aufsichtsrat von Siemens Energy sitzt. Grimm wurde vergangenen Mai vom Business Insider befragt, ob Deutschland bei Bürokratieabbau und Staatsverschlankung »mehr Musk wagen« müsse. »Ich würde da eher nach Argentinien schauen«, lautete die Antwort, also auf den autoritär-wirtschaftsliberalen Präsidenten Javier Milei, in dessen Amtszeit in den ersten sechs Monaten die Kaufkraft der Renten durch drastische Kürzungen und einen ausbleibenden Inflationsausgleich um 29 Prozent gesunken ist.

Dieser Kurs war sogar Friedrich Merz zu krass: „Was dieser Präsident dort macht, er ruiniert das Land, er tritt wirklich die Menschen mit Füßen“, sagte der damalige Oppositionsführer im Dezember 2024 bei Maischberger. Als Kanzler in Regierungsverantwortung betont allerdings auch Merz: „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“ Mit Blick auf den Haushalt 2027 ist das erklärte Ziel der schwarz-roten Koalition, 30 Milliarden Euro einzusparen. Mit Blick auf die staatlichen Sozialausgaben sagt Merz:

“So wie es jetzt ist, insbesondere im sogenannten Bürgergeld, kann es nicht bleiben und wird es auch nicht bleiben.“

Beim Bürgergeld, das ein Existenzminimum absichern soll und Stand 2024 von etwa 5,5 Millionen Menschen in der Republik bezogen wurde, ist für das kommende Jahr bereits eine weitere Nullrunde angekündigt, nachdem bereits 2025 kein Inflationsausgleich erfolgt ist. Insbesondere Konservative sehen darüber hinaus noch Einsparungspotenziale: So belaufen sich die jährlichen Aufwendungen für die Grundsicherung auf etwa 47 Milliarden Euro, von denen laut Kanzler Merz fünf eingespart werden sollen. “Jeder, der arbeiten kann, muss arbeiten gehen, sonst gibt es keine Sozialleistungen“, fordert CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und will zurück zu einer schärferen Sanktionspraxis bis zum vollständigen Leistungsentzug für Arbeitsunwilige. Allerdings ist die Zahl der sogenannten Totalverweigerer, die jede vom Jobcenter als zumutbar eingestufte Arbeit ablehnen, gering: Die Arbeitsagentur schätzte sie im August 2024 auf 16.000 bundesweit. Der Bundesrechnungshof hat das mal durchgerechnet: „Um fünf Milliarden Euro zu sparen, müssten theoretisch etwa 600.000 Leistungsberechtigte komplett aus dem Bürgergeldbezug herausfallen“, berichtet der Münchner Merkur.

Auch Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) befürwortet härtere Sanktionen für Arbeitsunwillige, verweist aber zugleich darauf, dass das Grundgesetz die Gewährleistung eines Existenzminimums verlangt. Zudem bezeichnet es Bas als „Bullshit“, dass der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar wäre, was für einigen Unmut in der Koalition gesorgt hat. Am 8. September trat nun SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf nach einer zweitägigen Klausur des Parteivorstands vor die Medien: „Die klare Botschaft ist: Wir sind reformbereit und reformwillig.“ Dabei würden die Sozialdemokrat:innen sehr intensiv überlegen, wie der Sozialstaat zukunftsfest, zielgenau und zugänglicher werden könne. „Unsere Parteivorsitzenden haben auch jetzt schon weitergehende Gedanken, als die im Koalitionsvertrag stehen“, so Klüssendorf. Viel konkreter wurde es dann allerdings nicht.

Dabei fällt das 30-Milliarden-Euro-Loch im Haushalt fällt in die direkte Zuständigkeit von Finanzminister und Vize-Kanzler Lars Klingbeil (SPD). Der analysierte nach dem historisch schlechten Abschneiden seiner Partei bei der vergangenen Bundestagswahl: „Uns ist der Charakter der Partei der Arbeit abhanden gekommen.“ Nachdem er die SPD seinen Vorstellungen entsprechend personell neu sortiert hat, ist die strategische Ausrichtung allerdings ziemlich unklar. Klingbeil benennt nach der Klausurtagung „Wachstum und Gerechtigkeit“ als Prioritäten. Nicht ganz untypisch für einen SPD-Vorsitzenden stellt er der Umsetzungschancen ungeachtet höhere Steuern für Spitzenverdiener und Vermögende in Aussicht. Zugleich lobt er jedoch Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) und den Mut zur Reform hinter der Agenda 2010.

Letzteres hat beispielsweise die FAZ wohlwollend zur Kenntnis genommen. Auch in dem wirtschaftsliberalen Leitmedium macht sich eine gewisse Ungeduld bemerkbar: „Sollte der ‚Herbst der Reformen‘ so kläglich enden, wie es sich abzeichnet“, kommentiert Autor Jochen Buchsteiner, „drohen die Zustimmungsraten für die Koalition noch unter jene 39 Prozent zu fallen, auf die sie schon jetzt in Umfragen zusammengeschmolzen sind.“ Davon werde dann insbesondere die Partei mit der „Alternative“ im Namen profitieren, und „Merz wird dann über kurz oder lang vor der Entscheidung stehen, ob er nach neuen, wechselnden Mehrheiten im Bundestag suchen soll, um die drängendsten Reformen als Kanzler einer Minderheitsregierung durchzusetzen“.

Wenngleich noch nicht ganz klar ist, wo der Rotstift überall angesetzt wird, so ist die schwarz-rote Koalition seit dem Ende der Sommerpause bereits zwei Forderungen aus der Wirtschaft nachgekommen. Zum einen ist eine Stromsteuer-Reduzierung für die Industrie beschlossen. Und das Lieferkettengesetz, das in globalisierten Produktionsprozessen zur Wahrung von Menschenrechten beitragen sollte, wurde durch Änderungen so weit ausgehöhlt, dass es de facto einer Abschaffung gleichkommt.

„Die Spielräume sind eng“, analysiert die Zeit in Sachen Haushaltskonsolidierung: „Unternehmensentlastungen sind bereits beschlossen, sie mindern die Einnahmen und erhöhen die Sparzwänge. Übrig bleiben Steuervergünstigungen, Sozialausgaben und Zuschüsse, die auf den Prüfstand kommen.“ Bis zu fünf Milliarden Euro wären laut dieser journalistischen Regierungsberatung bei der Kulturförderung streichen, „auch in der Rentenversicherung, in die der Bund über 120 Milliarden Euro zuschießt, liegt Sparpotenzial“, ebenso müsste der Zuschuss des Bundes an den Gesundheitsfonds ja nicht ganz so hoch sein: „Er liegt bei 14,5 Milliarden Euro und könnte um ein bis drei Milliarden reduziert werden. Das allerdings würde direkt zu höheren Krankenkassenbeiträgen führen – sozialpolitisch heikel, aber fiskalisch schnell wirksam.“

Womöglich wird sich die volle Härte dessen, was wirtschaftsnahe Stimmen als schmerzhaft, aber notwendig einschätzen, kurz nach den bevorstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen zeigen. Die Vermutung ist wohl nicht allzu gewagt, dass die Krisenlasten vor allem auf die ärmeren Teile der Bevölkerung abgewälzt werden. Ministerin Bas fordert zwar, die “Zumutungen gerecht (zu) verteilen“, aber ob der naheliegende Gedanke, das Geld dort zu holen, wo es was zu holen gibt, scheint mit einer Union-geführten Regierung kaum Aussichten auf Realisierung zu haben. Die – in ihrer aktuellen Form ohnehin lächerliche – Erbschaftssteuer etwa will CSU-Chef Markus Söder „drastisch senken“.