Von Peter Samol
Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2025/47 vom 20.11.2025
Die beiden chinesischen Online-Verkaufsplattformen Temu und Shein versuchen mit extrem billigen Angeboten, sich in der EU zu etablieren. Langfristig könnten sie sogar Amazon den Rang streitig machen.
Geschäfte in den Innenstädten beschränken sich hierzulande immer mehr auf Dienstleistungen, die man im Internet nicht erwerben kann: Es gibt noch Friseure, Cafés und Gastwirtschaften, Optiker und Kioske. Andere Geschäfte werden seltener und Ladenlokale stehen oft leer.
Ursache dafür ist der wachsende Online-Handel. Doch auch für die dortigen Großanbieter wächst die Konkurrenz, und zwar durch Billigkonkurrenz aus China. Nach Angaben der EU-Kommission kamen im Jahr 2024 rund 4,6 Milliarden Pakete mit Warenwert unter 150 Euro in die Europäische Union, davon 91 Prozent aus China. Das sind doppelt so viele wie noch 2023 und rund dreimal so viele wie 2022.
Die erfolgreichsten chinesischen Anbieter sind Shein und Temu. Gemessen am Gesamtwert aller Bestellungen in Deutschland ist der chinesische Modehändler Shein im Geschäftsjahr 2024 vom 18. auf den siebten Platz aller Online-Händler aufgestiegen, Temu schaffte es vom elften auf den fünften Platz. Noch nehmen Amazon, Otto und Zalando die ersten drei Plätze ein, wobei Amazon weiterhin mit großem Abstand führt. Aber auf lange Sicht könnte sich das ändern.
Temu ist relativ neu. Das Unternehmen befindet sich zwar in chinesischem Besitz, wurde aber 2022 in Boston (USA) als Aktiengesellschaft gegründet. Und zwar mit der Absicht, Waren aus China in die USA zu bringen. Das Unternehmen bietet eine breite Produktpalette von Kosmetik, Spielzeug, Elektroartikeln, Haushaltswaren und vielem mehr an. Es handelt sich dabei vor allem um günstige Wegwerfartikel. Einer Studie des Handelsforschungsinstituts EHI und der Datenplattform ECDB zufolge betrug Temus Bruttohandelsvolumen in Deutschland im Jahr 2024 3,4 Milliarden Euro. Das Unternehmen selbst gibt an, monatlich 754 Millionen Bestellungen aus der EU zu erhalten.
Shein wurde 2008 im chinesischen Nanjing gegründet. Dort hat man sich auf Kleidung spezialisiert und vertreibt vor allem fast fashion – kurzlebige Modeartikel, die schon nach kurzer Zeit verschleißen, manchmal Produktionsfehler aufweisen und auch schon mal mit falschen Größenangaben versehen sind.
Dennoch sind Temu und Shein bei Konsumenten beliebt und gewinnen EU-weit an Boden. Das liegt vor allem an den extrem niedrigen Preisen und an Rabatten von bis zu 90 Prozent. Hinzu kommen die enorme Produktvielfalt und eine äußerst aggressive Werbekampagne. Beispielsweise verspricht Temu Neukunden einen Tablet-Rechner, wenn sie direkt auf die Reklame reagieren, mit der die Firma sie zuvor auf werbefinanzierten Apps bombardiert hat. Außerdem investiert Temu stark in analoge Werbemedien wie Bandenwerbung bei Fußballspielen. Hinzu kommt eine gamification strategy auf den Websites. Dort kann man mit kleinen Spielen wie virtuellen Puzzles, Glücksrädern und Ähnlichem Rabatte gewinnen, die rasch verfallen und so zum Kauf animieren.
Temu stellt selbst nichts her
Temu stellt selbst nichts her, sondern bietet nur eine Online-Plattform, auf der verschiedene Händler ihre Produkte gegen Gebühren anbieten. Shein hat zwar einige eigene Produkte, agiert aber ebenfalls überwiegend als Verkaufsplattform. Die meisten westlichen Anbieter wie Amazon, Mediamarkt oder Otto kombinieren dieses Modell mit dem Angebot eigener Produkte. Beim Plattform-Modell werden die Produkte direkt von den Herstellern an die Kunden geschickt.
Das senkt den Preis, macht allerdings Reklamationen schwierig, weil diese direkt an den Versender gehen müssen. Dem Bundesverband der Verbraucherzentralen zufolge fehlen bei Temu und Shein diesbezüglich sehr oft wichtige Details, nicht selten sogar die Kontaktdaten des Herstellers. Sofern vorhanden, sind sie oft unverständlich oder lediglich in chinesischen Schriftzeichen dargestellt.
Vor allem aber lässt die Qualität der Waren beider Plattformen sehr zu wünschen übrig. Ende Oktober veröffentlichte die Stiftung Warentest gemeinsam mit einer Verbraucherschutzorganisation aus Dänemark und einer weiteren aus Belgien eine Studie, in der insgesamt 162 Produkte von chinesischen Versendern aus den Bereichen Schmuck, Spielzeug und Elektronik getestet wurden. Dabei fanden sie unsicheres Spielzeug, von dem sich verschluckbare Kleinteile lösen können oder das zu viel Formaldehyd enthielt, Schmuck, welcher das giftige Schwermetall Cadmium enthielt, sowie Ladegeräte, die überhitzten.
Das darf eigentlich nicht sein, denn in der EU herrschen hohe Verbraucherschutzstandards, die auch für importierte Waren gelten. Theoretisch müssten Produkte, die ihnen nicht entsprechen, von den Zollbehörden beschlagnahmt werden. Das ist aber angesichts der schieren Masse von täglich rund zwölf Millionen Paketen vollkommen illusorisch.
Verstöße gegen die Einfuhrbestimmungen
Es gibt noch weitere Verstöße gegen die Einfuhrbestimmungen. Auf den Plattformen lassen sich Berichten nach etwa auch gefälschte Markenprodukte finden, beispielsweise »Smartwatches« für wenige Euro. Außerdem wird Temu verdächtigt, den Bestellwert der Waren oft zu niedrig zu deklarieren, denn in der EU sind Pakete mit einem Wert bis 150 Euro zollfrei. Die ebenfalls fällige Mehrwertsteuer kann dadurch gedrückt werden, dass ein falsches Zielland mit günstigerem Steuersatz angegeben wird. In den Mitgliedstaaten der EU differiert der Mehrwertsteuersatz nämlich zwischen 17 und 27 Prozent.
Sowohl gegen Temu als auch gegen Shein hat die EU-Kommission in Brüssel Ermittlungen wegen möglicher Verstöße gegen EU-Gesetze zum Verbraucherschutz, wegen Regelverstößen und fehlender oder missverständlicher Angaben aufgenommen. Beiden Unternehmen drohen hohe Strafen.
Gegen die immer weiter steigenden chinesischen Exporte werden weltweit protektionistische Maßnahmen ergriffen, so auch im Fall der Online-Händler. Nach Aussage des EU-Handelskommissars Maroš Šefčovič plant die EU eine Gebühr von zwei Euro für jedes Paket aus Nicht-EU-Ländern an eine Privatperson sowie von 50 Cent pro Paket für Sendungen an Warenhäuser. Diese Gebühr soll von den Plattformen selbst gezahlt werden, die diese Kosten aber natürlich an ihre Kunden weitergeben können.
Bis zu drei Milliarden Euro an Gebühren
Die Einnahmen aus diesen Gebühren könnten nach EU-Berechnungen bis zu drei Milliarden Euro betragen. Sie sollen teilweise den Zollbehörden zugutekommen, um mehr Personal einzustellen. Der Rest soll direkt an den EU-Haushalt gehen. Das Vorhaben muss jedoch zuerst das Europarlament passieren und anschließend noch die Zustimmung aller 27 EU-Mitgliedstaaten finden. Das dürfte frühestens im Lauf des Jahres 2027 geschehen sein. Diese Verzögerung ist schlecht für die europäischen Händler, denn Temu, Shein und Co. drängen mit ihren Billigprodukten gerade mit besonderer Wucht auf den EU-Markt.
Außerdem ist geplant, die Zollbefreiung für Pakete unter 150 Euro Bestellwert abzuschaffen. Ursprünglich sollte das erst Anfang 2028 in Kraft treten. Jetzt strebt die EU eine aber eine Änderung schon im ersten Quartal 2026 an. Das Vorhaben soll bereits beim nächsten Treffen der EU-Finanzminister am 12. Dezember beschlossen werden.
In den USA geht das noch schneller. US-Präsident Donald Trump hat schon Anfang 2025 per Dekret eine Regelung ändern lassen, die es chinesischen Einzelhändler ermöglichte, Waren bis zu einem Wert von 800 US-Dollar (ca. 710 Euro) zollfrei in die USA zu exportieren. Im Jahr 2024 wurden auf diese Weise noch 1,36 Milliarden Sendungen in die USA getätigt. Das waren rund 30 Prozent der US-Pakete mit geringem Wert.
Nun unterliegen alle Importsendungen – seit einem weiteren Dekret Trumps aus dem Juli nicht mehr nur aus China, sondern aus der ganzen Welt – einem Mindestzoll von 30 Prozent, hinzu kam zeitweilig noch die extrem hohen Zölle von bis zu 145 Prozent, die Trump auf chinesische Importe erhoben hatte. Das ließ die in den USA erzielten Gewinne der chinesischen Online-Händler stark einbrechen und brachte sie dazu, sich noch stärker auf den EU-Markt zu orientieren. Für die dortigen Anbieter bedeutet das, dass ihnen noch mehr Konkurrenz durch die chinesischen Billiganbieter droht.

