.. aber sich nicht auf die âwestlichen Werteâ berufen sollte
von Norbert Trenkle
Ăberarbeitete und erheblich erweiterte Fassung des Diskussionsbeitrags „Falsche Frontstellung“
aus Jungle World 14/ 2022 vom 7.4.2022
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das Weltbild der politischen Linken einmal mehr krĂ€ftig durcheinander gewirbelt. Das Narrativ, wonach Putin bloĂ auf die vorgebliche Einkreisung durch die Nato und die USA reagiere und im Ăbrigen âlegitime Interessenâ verfolge, wird zwar angesichts der schrecklichen Lage nur noch selten offen vertreten. Doch revidiert worden ist es keineswegs. Vielmehr versteckt es sich nun hinter rituellen Formulierungen, in denen zunĂ€chst formelhaft der Krieg verurteilt wird, um dann in den folgenden SĂ€tzen die russische Aggression zu relativieren und dem Westen die Schuld daran zuzuschieben.1 Aber auch Teile der Linken, die nicht dem traditionalistischen und antiimperialistischen Lager zugerechnet werden können, haben die Orientierung verloren, weil sich die gegenwĂ€rtige Weltlage nicht mehr nach den gewohnten Mustern ordnen lĂ€sst. Viele ziehen sich daher auf ein Standpunkt unverbindlicher Ăquidistanz zurĂŒck, wonach ja alle Seiten irgendwie Dreck am Stecken hĂ€tten und man daher in diesem Konflikt auch keine Position beziehen könne.
Doch dieses Lavieren wird der Dramatik der historischen Situation nicht gerecht. Der Ăberfall auf die Ukraine ist Teil einer groĂangelegten Offensive eines extrem autoritĂ€ren Regimes, das von der bedrohlichen Vorstellung getrieben wird, Russland wieder zu einer relevanten GroĂmacht zu machen und die Weltordnung in seinem Sinne zu verĂ€ndern. Diese Offensive richtet sich nicht nur gegen ein bestimmtes Land, sondern ganz explizit gegen alles, was in den Augen Putins und seiner Gefolgschaft fĂŒr die âVerkommenheit des Westensâ steht. Dazu zĂ€hlt insbesondere die âsexuelle Dekadenzâ, sprich HomosexualitĂ€t und âGenderwahnâ, sowie die Zersetzung âtraditioneller kultureller Werteâ. Dahinter steht eine offen faschistische Ideologie, wie etwa Jason Stanley (2022) nachgezeichnet hat.2 Nicht umsonst ist Putin lange schon der gefeierte Star in der rechten ebenso wie in der links-autoritĂ€ren Szene, die am liebsten in die Welt des Fordismus oder des Realsozialismus zurĂŒck möchte, in der die âehrliche Arbeitâ noch zĂ€hlte, das GeschlechterverhĂ€ltnis noch eindeutig binĂ€r war und ĂŒberhaupt noch âOrdnungâ herrschte. Dass es ein ZurĂŒck in diese Welt nicht geben kann, hĂ€lt die regressiven KrĂ€fte nicht davon ab, es dennoch mit allen Mitteln zu versuchen, und sei es um den Preis, alles in Schutt und Asche zu legen.
FĂŒr emanzipative KrĂ€fte sollte es daher selbstverstĂ€ndlich sein, sich ohne Wenn und Aber gegen das Putin-Regime und den von ihm entfesselten Krieg zu stellen. Wer gegen Rassismus, Antifeminismus, Antisemitismus und Nationalismus kĂ€mpft, sollte nicht die Augen vor dieser geopolitischen Offensive des Autoritarismus verschlieĂen. Putin hat lĂ€ngst begriffen, dass es in dem von ihm mit betriebenen âKulturkampfâ keine nationalen Grenzen gibt. Die gezielten Propaganda- und Desinformationskampagnen in den Sozialen Medien und die UnterstĂŒtzung von rechten und links-autoritĂ€ren Parteien in aller Welt folgen genau diesem Muster. Und spĂ€testens seit dem russischen Eingreifen in Syrien zugunsten des Massenmörders Assad ist klar, dass Putin seine Vorstellungen einer repressiven Weltordnung auch militĂ€risch durchzusetzen bereit ist.
Freilich wird die klare Frontstellung gegen das Putin-Regime dadurch erschwert, dass diese im ĂŒberwiegenden Teil der westlichen Ăffentlichkeit unter die Ăberschrift einer Verteidigung der âuniversellen Werteâ von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten gestellt wird. Nicht nur reihen sich in diese Einheitsfront allerlei KrĂ€fte ein, die dem Autoritarismus ideologisch und politisch durchaus nahestehen und die sich Putin jetzt nur aus opportunistischen oder nationalistischen GrĂŒnden entgegenstellen (man denke nur an die polnische Regierung); es ist daher auch bloĂ eine Frage der Zeit, bis die Konflikte unter den Verteidigern der âwestlichen Werteâ wieder aufbrechen. Hinzu kommt jedoch noch etwas GrundsĂ€tzliches: Unter dem Eindruck des entsetzlichen Krieges wird gerne verdrĂ€ngt, dass sich jener viel beschworene Universalismus lĂ€ngst an der Wirklichkeit blamiert hat, was einer der wesentlichen GrĂŒnde fĂŒr die globale Offensive des Autoritarismus ist.
Universell sind die freiheitlich-demokratischen Werte nur ihrem abstrakten Anspruch nach. Ihre materielle Grundlage, die warenproduzierende Gesellschaft, beruht jedoch auf systematischen AusschlĂŒssen und der gesellschaftlichen Spaltung in Gewinner und Verlierer. Sie dementiert diesen abstrakten Anspruch daher permanent. Zwar ist die warenproduzierende Gesellschaft insofern universell, als sie sich in einer ungeheuren Dynamik auf dem gesamten Planeten durchgesetzt hat. Doch gleichzeitig zeigt sich, dass sie eine Minderheitenveranstaltung ist: Nur ein relativ kleiner Teil der Weltbevölkerung kann ein einigermaĂen auskömmliches und sicheres Leben fĂŒhren und findet ansatzweise Zugang zu dem, was die Charta der Menschenrechte verspricht. Gleichzeitig beruht diese minoritĂ€re Lebensweise auf der rĂŒcksichtslosen weltweiten PlĂŒnderung des Naturerbes (Trenkle 2020).
Dieser strukturelle Ausschluss- und Spaltungsmechanismus hat in den letzten Jahrzehnten zusĂ€tzlichen Schwung dadurch erhalten, dass die kapitalistische Maschine in ihrem rastlosen Funktionieren immer weniger auf lebendige Arbeitskraft angewiesen ist. Denn einerseits wurde die Produktion immer weiter automatisiert und digitalisiert (Produktivkraft Wissen) und andererseits hat sich in Reaktion darauf die Dynamik der Kapitalakkumulation immer stĂ€rker in die SphĂ€re des fiktiven Kapitals verschoben (Finanzialisierung). Beides zusammen fĂŒhrte dazu, dass immer mehr Menschen fĂŒr den bornierten Selbstzweck des Kapitals ĂŒberflĂŒssig gemacht wurden und dazu gezwungen sind, sich unter immer schlimmeren Bedingungen zu verkaufen und um ihr Ăberleben zu kĂ€mpfen, wĂ€hrend gleichzeitig die Zerstörung der natĂŒrlichen Lebensgrundlagen in rasantem Tempo voranschreitet, weil der exzessive Ressourcenverbrauch unvermindert weitergeht (Lohoff/Trenkle 2012; Trenkle 2018).
Es war daher auch vorgezeichnet, dass der nach der historischen ZĂ€sur von 1989 unternommene Versuch, eine âNeue Weltordnungâ im Zeichen von Demokratie und Marktwirtschaft zu etablieren, ins Desaster fĂŒhren musste. Nachdem schon die Projekte nachholender staatskapitalistischer Modernisierung unter den ideologischen Vorzeichen des âSozialismusâ gescheitert waren (Stahlmann 1990; Kurz 1991), hinterlieĂ die neoliberale Offensive der 1990er Jahre eine noch gröĂere Spur der VerwĂŒstung in groĂen Teilen der Welt. In den Ruinen erblĂŒhten haufenweise kleptokratische und autoritĂ€re Regimes sowie fundamentalistische Bewegungen verschiedenster AusprĂ€gung, die das ihre zur Desintegration des sozialen Zusammenhangs beitrugen. Und der Versuch, diese Tendenzen militĂ€risch unter Kontrolle zu kriegen, wo sie dem âWestenâ zu gefĂ€hrlich wurden, verschlimmerte die Lage nur noch. Insbesondere der Irakkrieg von 2003 war in seinen Folgen desaströs, weil er nicht nur das ohnehin geschundene Land noch weiter zerstörte, sondern die gesamte Region weiter destabilisierte und in einen anhaltenden Kriegszustand stĂŒrzte.3
Auch das Putin-Regime ist ja bekanntlich in Reaktion auf die katastrophalen Folgen der marktradikalen Transformation Russlands entstanden, allerdings mit dem bedeutsamen Unterschied, dass es ihm gelang, Russland wieder zu stabilisieren. Als das staatskapitalistische System der Sowjetunion zusammenbrach, weil es im ProduktivitĂ€tswettlauf mit dem marktwirtschaftlich organisierten Kapitalismus der westlichen LĂ€nder nicht mithalten konnte4, bedeutete das nicht nur die weitgehende Zerstörung der industriellen und wirtschaftlichen Strukturen, sondern löste auch einen Schub allgemeiner Verarmung und Verunsicherung aus. Neben dem Fehlen jeglicher sozialer Sicherheit war fĂŒr die Menschen der Verlust ihrer gewohnten Lebensweise mindestens genauso einschneidend. Der Realsozialismus war zwar kein emanzipatorische Projekt, sondern ein autoritĂ€res Staatsregime, aber er hatte es doch geschafft, ein peripheres Land zu industrialisieren und der Bevölkerung eine sichere Lebensperspektive zu geben. All das entfiel seinerzeit mit einem Schlag. Die Bevölkerung musste zusehen, wie sich im Zuge der wilden Privatisierung einige wenige Gruppen auf obszöne Weise bereicherten und der einst so allmĂ€chtige Staatsapparat dem ganzen Treiben nichts entgegensetzte, sondern zum Spielball und willigen Instrument der âOligarchenâ gemacht wurde.
So gesehen ist sehr gut nachvollziehbar, dass die 1990er Jahre als traumatisch empfunden wurden und dass Putin, der sich auf bedeutende KrĂ€fte im Sicherheits- und MilitĂ€rapparat stĂŒtzen konnte, bis heute sehr populĂ€r ist, weil es ihm gelang, diesen Zustand zu beenden. Zwar wollte (und konnte) er den sogenannten Sozialismus keineswegs zurĂŒckbringen. Ganz im Gegenteil: das Putin-Regime verfolgt bis heute ökonomisch einem extrem neoliberalen Kurs, der allerdings durch einen autoritĂ€ren Staat abgesichert ist (Yudin 2022). Aber immerhin unterwarf es die Oligarchen dem Staatsapparat und stellte sie in dessen Dienste; ihre guten GeschĂ€fte durften sie weiterhin machen, doch mussten sie nun einen (vergleichsweise kleinen) Teil ihrer Gewinne zum Zwecke der Legitimationsproduktion abtreten und zugleich Prestigeprojekte des Regimes (etwa die Winter-Olympiade in Sotschi) zu finanzieren. Immerhin wurden nun die Löhne im weiterhin groĂen staatlichen Sektor ebenso wie die Renten pĂŒnktlich ausbezahlt, gewisse soziale Transferleistungen flossen und die Infrastruktur wurde zumindest in den Zentren wieder hergerichtet und modernisiert. BegĂŒnstigend wirkten sich natĂŒrlich auch die hohen Preise fĂŒr Ăl und Gas sowie fĂŒr andere Rohstoffe aus, ĂŒber die das riesige Land reichlich verfĂŒgt. Auf diese Weise konnte sich das Putin-Regime eine ziemlich breite Legitimation in der Bevölkerung erkaufen, die freilich zunehmend durch eine UnterdrĂŒckung der Opposition und aller nicht-konformer zivilgesellschaftlicher Akteur:innen einherging.
ZusĂ€tzlich abgesichert wurde das Ganze von einer nationalistischen IdentitĂ€tspolitik, die im Kern darauf zielt, Russland wieder zur GroĂmacht zu machen und eine âeurasische Unionâ herzustellen, welche mindestens die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion umfasst. Wenn Donald Trumps Erfolg bei den US-PrĂ€sidentschafts-Wahlen von 2016 von der Parole getragen wurde âMake America great againâ, so hatte Putin dieses Ziel fĂŒr Russland schon lange vorher in den Mittelpunkt seines politischen Handelns gestellt. Bei groĂen Teilen der Bevölkerung kam das gut an, denn gerade in Zeiten von Krise und Verunsicherung stellt die Identifikation mit einem nationalen Kollektiv eine RĂŒckversicherung dar, die entscheidend zur Stabilisierung des SelbstgefĂŒhls beitragen kann.
Aus allem was bekannt ist darf man unterstellen, dass Putin diese nationalistischen GröĂenphantasien nicht nur aus instrumentellen GrĂŒnden inszeniert, sondern ihnen wirklich verfallen ist (Kappeler 2021). Er selbst empfindet den Untergang des Sowjetimperiums als tiefe Schmach und wird von dem unbĂ€ndigen Drang getrieben, diese zu tilgen.5 Dieses Handlungsmotiv trat im Laufe seiner Herrschaft immer mehr in den Vordergrund, in dem MaĂe, wie er diese durch innere Opposition, und durch nachlassenden ökonomischen Erfolg im Zuge zeitweilig sinkender Rohstoffpreise bedroht sah (Yudin 2022; Exner 2022). Hinzu kamen noch Demokratiebewegungen in den umliegenden LĂ€ndern, insbesondere der Ukraine, von denen aus Sicht der russischen Autokratie eine Ansteckungsgefahr ausging und die auĂerdem deren hegemonialen Anspruch im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion infrage stellten. Deshalb ist es auch verkehrt, wenn behauptet wird, Putins Krieg gegen die Ukraine sei nur eine Reaktion auf irgendwelche angeblichen Provokationen der NATO oder der USA. Zwar hat der âWestenâ durch sein Auftrumpfen und seine Politik seit den frĂŒhen 1990er Jahren wohl mit dazu beigetragen, das GefĂŒhl der DemĂŒtigung noch zu verstĂ€rken, doch fĂŒr den imperialen Nationalismus, mit dem vor allem groĂe Teile des russischen Staats- und Sicherheitsapparats und der politischen den Zusammenbruch Sowjetunion ideologisch verarbeitet haben, kann er nicht direkt verantwortlich gemacht werden.6
AuĂerdem erfolgte der Angriff auf die Ukraine ja keineswegs zu einem Zeitpunkt, in dem die NATO und die USA vor weltpolitischer StĂ€rke strotzen, sondern ganz im Gegenteil deutliche SchwĂ€che zeigten. SpĂ€testens der erzwungene Abzug aus Afghanistan hat das Scheitern der âNeuen Weltordnungâ endgĂŒltig vor Augen gefĂŒhrt. AusdrĂŒcklich und öffentlich sprachen die Kreml-Strategen von einem Fiasko in Afghanistan, das die SchwĂ€che der NATO und der USA deutlich gemacht habe (Manutscharjan 2022). Die Offensive des Putin-Regimes ist insofern keine Reaktion auf eine Bedrohung durch den Westen, sondern purer Revanchismus in einer Situation, in der es seine Chance sieht, die geopolitischen MachtverhĂ€ltnisse wieder zu seinen Gunsten zu verschieben. Zwar scheint Putin sich dabei verrechnet zu haben, doch das macht die Sache nicht besser; denn das Leid und die Zerstörung, die er mit dem Krieg schon bisher angerichtet hat, sind furchtbar und es zeigt sich, dass das russische MilitĂ€r immer rĂŒcksichtsloser vorgeht, je weniger es seinen Zielen nĂ€her kommt.7
Die GefĂ€hrlichkeit des Putin-Regimes resultiert gerade daraus, dass seine imperialen Ambitionen eine ideologische und politische Antwort auf den Verlust einer einstigen geopolitischen Machtposition darstellen. Es sind oft die Verlierer in der kapitalistischen Konkurrenz (oder diejenigen, die sich als Verlierer betrachten), die die schlimmsten regressiven Energien mobilisieren und alles daran setzen, entweder ihre alte Position wieder zu erkĂ€mpfen oder sich wenigstens an den Gewinnern (oder an stellvertretenden Gruppen) zu rĂ€chen, und sei es um den Preis wechselseitiger Zerstörung. Dieses Ressentiment ist auch die subjektive Triebkraft der groĂangelegten Aktionen, mit denen das russische Regime schon seit langem versucht, das politische GefĂŒge in den westlichen Staaten zu untergraben und mit dem es auf seinem Territorium alles verfolgt, was als Ausdruck âwestlicher Scheinfreiheitâ8 identifiziert wird (unabhĂ€ngige zivilgesellschaftliche Akteur:innen, queere Communities, freie Kulturszene etc.).
Das ist auch der tiefere Grund dafĂŒr, weshalb Putin gerade bei den Rechten und Rechtsextremen auf der ganzen Welt so beliebt ist. Denn deren Ressentiment speist sich aus Ă€hnlichen Quellen: Es entspringt einer identitĂ€ren KrĂ€nkung durch den tatsĂ€chlichen oder vermeintlichen Verlust einer gesellschaftlichen Machtposition und artikuliert sich im dem ebenso regressiven wie unrealisierbaren Wunsch nach der RĂŒckkehr in eine Welt, in der diese Position noch gesichert war. In diesem Zusammenhang ist auch der ausgeprĂ€gte Maskulinismus zu verorten, den Putin auf besondere Weise reprĂ€sentiert und der fĂŒr alle autoritĂ€ren und regressiven Strömungen auf der Welt (angefangen bei der AFD und den Trump-Republikanern ĂŒber die Islamisten bis hin zu den Hindu-Nationalisten) charakteristisch ist.
Denn der Machtverlust berĂŒhrt den identitĂ€ren Kern des mĂ€nnlichen Subjektstatus in der bĂŒrgerlichen Gesellschaft, der sich primĂ€r ĂŒber die Selbstbehauptung in der allseitigen Konkurrenz definiert und durch die Konstruktion einer untergeordneten Weiblichkeit abgesichert wird, die das genaue Gegenbild dieser Form der Subjektivierung reprĂ€sentieren soll. Auf die ErschĂŒtterung dieser binĂ€ren und hierarchischen Geschlechterordnung durch die feministischen Bewegungen und den ökonomischen Strukturwandel in den letzten Jahrzehnten reagieren MĂ€nner auf der ganzen Welt mit höchster AggressivitĂ€t (Posster 2020; Trenkle 2007). Es geht hier um die Verteidigung des innersten Kern ihres SelbstgefĂŒhls, der bisher auch dann noch Halt geben konnte, wenn der soziale Abstieg drohte, weil beispielsweise der Arbeitsplatz verloren ging. Umso erbitterter und rĂŒcksichtsloser wird daher diese letzte Bastion verteidigt, wie sich ĂŒberdeutlich an der exzessiven Zunahme sexualisierter Gewalt auf der ganzen Welt ablesen lĂ€sst.
Auch in diesem Sinne ist Putin die ideale Identifikationsfigur. Er reprĂ€sentiert einen Typus mĂ€nnlicher Verlierer, der sich gegen die Auflösung der bĂŒrgerlichen Geschlechterhierarchie zur Wehr setzt und der politisch und militĂ€risch mĂ€chtig genug ist, um diesen Kampf erfolgreich zu fĂŒhren. Dazu passt die ideologische UnterfĂŒtterung mit dem antimodernistischen Weltbild, wonach die Geschichte bestimmt wird von der Konfrontation verschiedener, âorganischerâ Kulturen, die um die Vorherrschaft kĂ€mpfen, aber sich auch immer gegen die âDekadenzâ und dem âVerfall der Werteâ im Inneren zur Wehr setzen mĂŒssen. Dass diese Zersetzung zugleich mit âjĂŒdischen Intrigenâ und anderen hinterhĂ€ltigen Verschwörungen in Verbindung gebracht wird, gehört zur wahnhaften Logik dieses Weltbildes dazu (Stanley 2022).9
Diese regressive Weltsicht, in der sich Autoritarismus, Maskulinismus, aggressiver Kulturalismus und Antisemitismus verbinden, steht allerdings den vielbeschworenen Werten von Demokratie und Freiheit nicht Ă€uĂerlich gegenĂŒber, sondern bildet gleichsam deren dunkle RĂŒckseite. Sie entspringt dem gleichen gesellschaftlichen Bezugssystem wie die AufklĂ€rung und verweist in ihrem Irrationalismus auf die blinden Flecken der bĂŒrgerlichen RationalitĂ€t, auf ihre instrumentelle BeschrĂ€nktheit und auf die systematischen AusschlĂŒsse, die sie permanent produziert. Daran muss gerade angesichts der aktuellen Konfrontation dringend erinnert werden (Lohoff 2003a; Lewed 2008). Wenn diese nĂ€mlich in der westlichen Ăffentlichkeit als âKampf zweier Wertesystemeâ interpretiert wird, erscheint der Autoritarismus als etwas Fremdes, das von auĂen in die Welt der liberalen Demokratien hereinbricht. Damit wird aber nicht nur verdrĂ€ngt, dass diese Welt lĂ€ngst selbst von innen heraus bedroht wird und in nicht wenigen LĂ€ndern die Rechtsextremen bereits in der Regierung sitzen, saĂen oder bald sitzen werden (demnĂ€chst vielleicht sogar in Frankreich). Verleugnet wird auch, dass diese Bedrohung durch die marktradikale Zurichtung der Gesellschaft und die sich verschĂ€rfenden sozialen Exklusions- und Spaltungstendenzen ĂŒberhaupt erst ein solches AusmaĂ angenommen hat.
Diese VerĂ€uĂerlichung des Autoritarismus befördert mehrere bedenkliche Tendenzen. Erstens die Tendenz zur impliziten oder expliziten Kulturalisierung der Auseinandersetzung und damit zu einer Angleichung an den Gegner. Wie das funktioniert, konnten wir schon in der Frontstellung gegen den Islamismus beobachten, wo dessen antimodernistisches Weltbild auf âden Islamâ zurĂŒckgefĂŒhrt wurde, der mit den âwestlichen Wertenâ angeblich nicht kompatibel sei und im Anschluss daran absonderliche Koalitionen zwischen rechten, linken und liberalen Islamfeinden entstanden. Die schon jetzt wahrnehmbare anti-russische Stimmung könnte ein Vorbote einer Ă€hnlichen Tendenz unter neuen Vorzeichen sein (Trenkle 2008). Zweitens kann der VerĂ€uĂerlichungsdiskurs eine noch stĂ€rkere Abschottung des âWestensâ legitimieren und zu einer noch rigideren Bewachung der nationalen und EU-Grenzen fĂŒhren sowie die innere Segregation nach dem Muster von gated communities vorantreiben. Diese VerstĂ€rkung der ohnehin schon existenten FestungsmentalitĂ€t kĂ€me dem offenen EingestĂ€ndnis gleich, dass es nur noch darum geht, die eigenen Privilegien auf Kosten der ĂŒbrigen Welt zu verteidigen. Die dritte gefĂ€hrliche Tendenz schlieĂlich ist die Militarisierung der Gesellschaft (durch eigene AufrĂŒstung) sowie eine damit einhergehende Remaskulinisierung, wie sie sich jetzt schon in der Heroisierung des ukrainischen Widerstands Ă€uĂert.
Die Auseinandersetzung mit dem Autoritarismus lĂ€sst sich auf diese Weise nicht gewinnen. Vielmehr kommt es so zu einer zunehmenden Angleichung der âwestlichen Gesellschaftenâ an den scheinbar Ă€uĂerlichen Feind. Damit soll nicht gesagt werden es sei gleichgĂŒltig, auf welche Seite man sich angesichts der autoritĂ€ren Bedrohung schlĂ€gt. Immerhin verweist der universalistische Anspruch der liberal-demokratischen Werte und der Menschenrechte noch auf den Gedanken einer allgemeinen menschlichen Emanzipation, auch wenn dieser permanent von der kapitalistischen Wirklichkeit dementiert wird. Es fĂ€llt nicht schwer, dem demokratischen und Menschenrechtsdiskurs seine Doppelbödigkeit und Selbstgerechtigkeit vorzuwerfen; doch das mĂŒndet nicht selten in einer expliziten oder impliziten Rechtfertigung des Autoritarismus, wie sich insbesondere am Beispiel von Sarah Wagenknecht studieren lĂ€sst. DemgegenĂŒber ist unmissverstĂ€ndlich festzuhalten, dass die relativen Freiheiten in den (noch) demokratisch organisierten LĂ€ndern der Welt dezidiert gegen die autoritĂ€re Bedrohung verteidigt werden mĂŒssen. Und zwar zur Not auch mit Gewalt. Der militĂ€rische Angriff eines autoritĂ€ren Regimes lĂ€sst sich nicht durch âzivilen Widerstandâ aufhalten, wie es groĂe Teile der deutschen Friedensbewegung in echter oder gespielter NaivitĂ€t propagieren.10 Die Ukraine hat definitiv das Recht, sich mit Waffengewalt zu verteidigen, und es ist richtig, dass die europĂ€ischen LĂ€nder und die USA sie dabei unterstĂŒtzen und ihr das dafĂŒr nötige Material liefern. Daran Ă€ndert rein gar nichts, dass die Ukraine sicherlich nicht als Musterland einer reprĂ€sentativen Demokratie gelten kann, sondern auch hier starke nationalistische und autoritĂ€re Tendenzen existieren. Dennoch gibt es eben auch bĂŒrgerliche Freiheiten wie in keiner anderen ehemaligen Sowjetrepublik (die baltischen Staaten ausgenommen) und es steht auĂer Zweifel, dass diese im Fall eines russischen Sieges als erstes abgeschafft wĂŒrden. Denn sie gelten als Ausdruck âwestliche Dekadenzâ, deren BekĂ€mpfung eine der zentralen BegrĂŒndungen fĂŒr die âSpezialoperationâ ist, auch wenn das völlig im Widerspruch zum Narrativ einer nazistischen Herrschaft in der Ukraine steht.11
Allerdings ist zu befĂŒrchten, dass die bĂŒrgerlichen Freiheiten in Ukraine auch dann massiv eingeschrĂ€nkt werden, wenn es dem Putin-Regime gelingt, einen permanenten Kriegszustand aufrechtzuerhalten, etwa indem es die Ostukraine besetzt hĂ€lt. Schon jetzt hat der Krieg, wie fast immer und ĂŒberall, die nationalistischen, autoritĂ€ren und maskulinistischen Tendenzen im Land gestĂ€rkt und etwa dazu gefĂŒhrt, dass junge MĂ€nner nicht mehr ausreisen dĂŒrfen und zwangsweise zum Wehrdienst eingezogen werden.12 Zwar ist es billig, wenn die traditionelle Linke das benutzt, um ihren Standpunkt oberflĂ€chlicher Ăquidistanz zu rechtfertigen (âSeht her: Beide Seiten sind gleich schlimm!â), der auf eine Rechtfertigung des russischen Angriffs hinauslĂ€uft. Dennoch muss die klare Frontstellung gegen den Autoritarismus einhergehen mit einer gleichzeitigen Ablehnung des ukrainischen Nationalismus, genauso wie die liberal-demokratische Selbstgerechtigkeit zurĂŒckzuweisen ist. Die Offensive des Autoritarismus trĂ€gt transnationalen Charakter, auch wenn sie sich im aktuellen Fall gegen ein bestimmtes Land richtet. Deshalb muss auch die Gegenwehr konsequent die Grenzen nationaler BeschrĂ€nktheit sprengen. Das schlieĂt nicht aus, ein angegriffenes Land mit allen notwendigen Mitteln zu unterstĂŒtzen, aber es muss auch klar sein, dass der Autoritarismus letztlich nur besiegt werden kann, wenn ihm der Boden entzogen wird, auf dem er entsteht.
Daher sollte der Krieg ein weiterer Anlass sein, die KĂ€mpfe auf dem Feld der sozialen und ökologischen Transformation zu verstĂ€rken und mit einer emanzipatorischen Perspektive zu verbinden, die auf den Bruch mit den herrschaftlichen ZwĂ€ngen von Warenproduktion und Staat zielt. Eines ist in den letzten Wochen ĂŒberdeutlich geworden: Soziale und ökologische Fragen sind keine âSonderthemenâ mit nachgeordnetem Charakter, sondern untrennbar und elementar mit dem Krieg und der autoritĂ€ren Offensive verbunden. Die AbhĂ€ngigkeit von den fossilen Energien wird ganz gezielt als Waffe eingesetzt und die Preissteigerungen bei Ăl und Gas sowie insbesondere auch bei den Nahrungsmitteln verschĂ€rfen die soziale Spaltung in den kapitalistischen Zentren und rufen Hungersnöte im Globalen SĂŒden hervor. Das ist fĂŒr sich genommen schon schlimm genug, hinzu kommt aber noch, dass es die SolidaritĂ€t mit den geflĂŒchteten Menschen aus der Ukraine und anderswo untergrĂ€bt und Wasser auf die MĂŒhlen der rechten KrĂ€fte ist, wie sich gerade bei den Wahlen in Frankreich wieder gezeigt hat.
Deshalb ist ein rascher Wechsel der energetischen Basis ebenso wichtig wie der ökologische Umbau der Landwirtschaft und die Sicherung der allgemeinen Versorgung mit guten Nahrungsmitteln. Doch das erfordert einen Abschied von den marktwirtschaftlichen Dogmen ebenso wie von den falschen Vorstellungen eines âgrĂŒnen Kapitalismusâ, die gleichermaĂen ein solches Vorhaben unterlaufen. Gefordert ist einerseits ein konsequentes staatliches Eingreifen, um die von den MĂ€rkten verursachten Verwerfungen abzufangen13; andererseits mĂŒssen aber vor allem und in erster Linie die Rahmenbedingungen fĂŒr den Ausbau selbstorganisierter und kooperativer Strukturen auf allen gesellschaftlichen Feldern geschaffen und erweitert werden. Eine solche Strategie ist nicht an nationale Grenzen gebunden und wĂ€re daher in der Lage, alle KrĂ€fte zusammenzufĂŒhren, die sich weltweit gegen den Autoritarismus zur Wehr setzen und zugleich mit der marktwirtschaftlichen Zerstörung der Lebensbedingungen Schluss machen wollen, die diesem den Boden bereiten. Sie wĂ€re universalistisch im emphatischen Sinne des Wortes, weil sie auf die gesellschaftliche Emanzipation im globalen MaĂstab jenseits der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise zielt.
Literatur:
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Andreas Kappeler (2021): Revisionismus und Drohungen. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: OSTEUROPA, 71. Jg., 7/2021, S. 67â76
Robert Kurz (1991): Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernen-Sozialismus zur Krise der Weltökonomie, Frankfurt 1991
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Johanna W. Stahlmann (1990): Die Quadratur des Kreises. Funktionsmechanismus und Zusammenbruch der sowjetischen Planökonomie, in: Krisis. BeitrÀge zur Kritik der Warengesellschaft 8/9, www.krisis.org/1990/die-quadratur-des-kreises/
Jason Stanley (2022): Der Antisemitismus hinter Putins Forderung nach âEntnazifizierungâ der Ukraine, https://geschichtedergegenwart.ch/der-antisemitismus-hinter-putins-forderung-nach-entnazifizierung-der-ukraine/
Johanes Voswinkel (2014): Putin will Revanche fĂŒr 1989, in: Die Zeit 18.3.2014
Greg Yudin (2022): âIn Russland droht ein faschistisches Regimeâ, in: ak 681, www.akweb.de/politik/greg-yudin-in-russland-droht-ein-faschistisches-regime/
Endnoten:
1 Ein besonders skandalöses Beispiel ist der Aufruf zum Ostermarsch 2022 in Berlin (https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2022/aufrufe/berlin). Er verzichtet ehrlicherweise gleich ganz auf eine Distanzierung von der russischen Kriegspolitik und fordert stattdessen âVerhandlungen Verhandlungen mit Kompromissbereitschaft von beiden Seiten ⊠die vernĂŒnftigerweise eine neutrale Ukraine zur Folge haben mĂŒsstenâ. Im Anschluss daran heiĂt es: âWarum unternehmen die Regierungen der westlichen LĂ€nder, deren Sprachrohre uns tĂ€glich mit unĂŒberprĂŒfbaren Kriegsbildern befeuern, nicht alles in ihrer Macht stehende, diesen Horror zu beenden? Sie mĂŒssten sich doch nur mit Vernunft und Diplomatie einbringen statt mit Waffenlieferungen, Sanktionen und Aufheizen der Emotionen. Sie mĂŒssten mit der weiteren NATO-Osterweiterung aufhören und keine provozierenden NATO-Manöver an der russischen Grenze abhaltenâ. Besser hĂ€tte man die russische Kriegspropaganda kaum wiedergeben können. Schuld am Krieg sind die westlichen Staaten und die Bilder vom Krieg sind mehr oder weniger erfunden. Da fehlt nur noch die Forderung nach dem Friedensnobelpreis fĂŒr Herrn Putin. Es soll aber auch gesagt werden, dass in anderen StĂ€dten die Aufrufe nicht so offen Stellung beziehen, sondern sich um eine oberflĂ€chliche Ăquidistanz bemĂŒhen, die jedoch auch die eindeutige Verantwortung des russischen Regimes fĂŒr den Angriffsrkrieg relativiert (vgl. etwa den Aufruf der NĂŒrnberger Initiative: https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2022/aufrufe/n%C3%Bcrnberg).
2 Der Moskauer Soziologe Greg Yudin (2022) spricht vom Putin Regime als einer prÀfaschistischen Ordnung.
3 Darauf haben wir in der Krisis schon ausdrĂŒcklich anlĂ€sslich des Irakkrieges von 2003 hingewiesen (vgl. etwa Lohoff 2003b)
4 Im Rahmen der nachholenden Modernisierung konnte ein staatlich organisierten Kapitalismus zwar Basisindustrien aus dem Boden stampfen, eine gesellschaftliche Infrastruktur aufbauen und mehr schlecht als recht eine standardisierte Massenproduktion dirigieren, doch der Ăbergang zu einer flexiblen, auf Produktivkraft Wissen beruhenden Warenproduktion konnte nicht gelingen, weil sich diese KomplexitĂ€t einer staatlichen Planung entzieht (vgl. Stahlmann 1990; Kurz 1991). Deshalb ist auch die Diskussionen um einer Erneuerung des Staatssozialismus, wie sie in Teilen der Linken derzeit gefĂŒhrt werden, haltlos.
5 Das zeichnete sich schon sehr deutlich in 2014 bei der Annektion der Krim ab (vgl. etwa Voswinkel 2014)
6 Die Politik der NATO und der USA gegenĂŒber Russland war sehr widersprĂŒchlich. Es gab Phasen der AnnĂ€herung und sogar der engen Zusammenarbeit insbesondere gegenĂŒber dem als gemeinsame Gefahr empfundenen Islamismus (Lohoff 2002). Auch verfolgten die NATO-LĂ€ndern durchaus kontrĂ€re Interessen im Hinblick auf Russland; einige, insbesondere Deutschland und Frankreich, strebten sogar eine relativ enge (vor allem wirtschaftliche) Zusammenarbeit an. Vgl. dazu im einzelnen Exner 2022
7 Mittlerweile ist das groteske Narrativ von einer âEntnazifizierung der Ukraineâ ergĂ€nzt worden durch die Forderung nach einer âEntukrainisierungâ, also der offenen Androhung eines Völkermordes. In diesem Sinne hat sich der ehemalige PrĂ€sident und Gefolgsmann Putins, Dimitri Medwedew, geĂ€uĂert, der das auĂerdem mit der gröĂenwahnsinnigen Phantasie eines âoffenen Eurasien von Lissabon bis Wladiwostokâ verbindet (Die WELT, 6.4.2022) https://www.welt.de/politik/ausland/article238010209/Medwedew-will-offenes-Eurasien-von-Lissabon-bis-Wladiwostok.html
8 So das Oberhaupt der Russisch Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, der in seiner Sonntagspredigt vom 6.3.2022 sagte, der Angriff sei erfolgt, âweil es speziell im Donbass âeine grundsĂ€tzliche Ablehnung der sogenannten Werteâ gebe, âdie heute von denen angeboten werden, die die Weltmachtâ beanspruchten. [âŠ] Es sei eine Zumutung, von Menschen zu verlangen, âSchwulenparadenâ zu ertragen, so der Patriarch; dies sei der wichtigste Punkt bei der âsehr einfachen und entsetzlichen LoyalitĂ€tsprĂŒfungâ zwischen West und Ost. Vergebung bestehe darin, auf der âSeite Gottesâ zu stehenâ https://www.br.de/nachrichten/kultur/russischer-patriarch-schwulen-paraden-grund-fuer-ukraine-krieg,SzOShXa
9 Es ist daher auch kein Zufall, dass sich das Putin-Regime im Milieu der sogenannten Querdenker und von Verschwörungsideologen jeder Art besonderer Beliebtheit erfreut. https://www.tagesschau.de/investigativ/reaktionen-auf-putin-von-querdenkern-und-verschwoerungsideologen-101.html
10 So etwa in dem Aufruf âDie Waffen nieder!â (Anzeige in der TAZ vom 2.3.2022), wo es heiĂt: âEine Beendigung des militĂ€rischen Widerstands seitens der Ukraine, verbunden mit der AnkĂŒndigung zivilen Widerstandes gemÀà des Konzeptes Sozialer Verteidigung, könnte weitere unzĂ€hlige Tote, Verletzte und VerwĂŒstungen in einem andauernden Krieg vermeiden helfenâ. Es ist nicht nur vollkommen blauĂ€ugig, zu meinen, das russische MilitĂ€r lieĂe sich auf diese Weise aufhalten, sondern auch noch höchst anmaĂend gegenĂŒber der ukrainischen Bevölkerung, die sich mit allem Recht gegen den Angriff zur Wehr setzt. Zur Kritik an diesem falschen Pazifismus vgl, ausfĂŒhrlich Exner 2022.
11 Selbst ukrainische Anarchist:innen haben dazu aufgerufen, sich gegen den russischen Angriff auch mit Waffengewalt zu verteidigen, weil sich dieser nicht zuletzt gegen die relativen Freiheiten richtet, die es in der Ukraine trotz aller sonstigen Tendenzen noch gibt (Kontext-Redaktion 2022).
12 Schon die Annektion der Krim und die faktische Abtrennung von Teilen der Ostukraine haben zu einer VerstĂ€rkung autoritĂ€rer und nationalistische Tendenzen in der Ukraine gefĂŒhrt. Auch das berĂŒchtigte rechtsradikale Azov-Regiment entstand in Reaktion auf diesen russischen Angriff. Es ist daher zynisch, wenn dessen Existenz nun als BegrĂŒndung fĂŒr den jetzigen Krieg genannt wird. Abgesehen ist der Zuspruch fĂŒr die Rechtsradikalen in der ukrainischen Bevölkerung bei weitem nicht so groĂ, wie oft behauptet wird. Das sogenannte Nationalcorps erreichte bei den Parlamentswahlen von 2019 gerade einmal zwei Prozent der Stimmen (Exner 2022).
13 In diesen Kontext gehören etwa Forderungen nach einer scharfen Regulierung des Wohnungsmarktes oder einer Kommunalisierung von Grund und Boden (Lohoff 2020); aber auf die Idee einer kostenlosen sozialen Infrastruktur, wie sie Joachim Hirsch schon vor Jahren ins GesprÀch gebracht hat, sollte aufgegriffen werden (AG Links-Netz 2012).