15.04.2019 

Das Manifest gegen die Arbeit zwanzig Jahre später. Nachwort zur vierten Auflage

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Seit wir vor fast 20 Jahren das Manifest gegen die Arbeit veröffentlichten hat sich die fundamentale Krise des Kapitalismus nicht nur in ökonomischer Hinsicht rasant verschärft, sondern stellt zunehmend den Bestand der Warengesellschaft insgesamt in Frage. Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen schreitet ungebremst voran, die soziale Zerklüftung der Welt hat dramatische Ausmaße angenommen und auf politischer Ebene erleben wir eine unheimliche Wiederkehr kollektiver Identitäten, die mit dem Aufschwung nationalistischer, rechtsextremer und linkspopulistischer Parteien und Bewegungen einhergehen. Dass die quasi-religiöse Überhöhung der Arbeit darunter nicht gelitten hat, kann nicht verwundern, stellt sie doch ein konstitutives Element der modernen Subjektivität dar und verweist darin auf die zentrale Stellung der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft. Allerdings hat sich die arbeitsideologische Ausrichtung seit den 1990er Jahren in mancher Hinsicht verändert. Stand damals das Abfeiern der individuellen Leistungsbereitschaft im Mittelpunkt, gemäß dem neoliberalen Motto, wonach jeder und jede für das eigene Glück selbst verantwortlich zu sein habe, so ist mittlerweile die Anrufung der Arbeit wieder verstärkt in das Zentrum kollektiver Identitätskonstruktionen gerückt und flankiert ideologisch die nationalistische Abgrenzung und den rassistischen Ausschluss. Hinzu kommt die altbekannte, antisemitisch konnotierte Entgegensetzung von „ehrlicher Arbeit“ und „parasitärem Finanzkapital“, die im Zuge des anhaltenden Krisenprozess eine Renaissance erfahren hat. Neu ist das nicht. Schon in den 1990er Jahren mengten sich diese ideologischen und identitären Momente in den neoliberal dominierten Arbeitsfetischismus; wir haben das auch bereits im Manifest thematisiert. Allerdings prägen sie nun den Arbeitsdiskurs in zunehmender Weise

Die Kritik der Arbeit bleibt daher so aktuell wie eh und je. Jedoch hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht nur die gesellschaftliche Krise weiter zugespitzt; auch die Wertkritik ist in ihrer theoretischen Entwicklung nicht stehen geblieben. Mit einem geschärften begrifflichen Instrumentarium sind wir heute in der Lage, den Krisenprozess nicht nur in seinen ökonomischen und politischen, sondern auch in seinen subjektiven und ideologischen Dimensionen in vieler Hinsicht präziser zu analysieren. Es ist unmöglich, das hier ausführlich darzustellen, doch sollen einige wichtige Aspekte zumindest kurz skizziert werden. Wer diese weiterverfolgen möchte, sei auf die Texte verwiesen, die sich in den Endnoten finden.[1]

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Beginnen wir zunächst mit einigen Bemerkungen zur ökonomischen Entwicklung im engeren Sinne. Es könnte vielleicht mit Blick auf die blanken empirischen Daten so scheinen, als hätten wir uns im Manifest mit dem Satz, wonach der „Verkauf der Ware Arbeitskraft … im 21. Jahrhundert genauso aussichtsreich sein (wird), wie im 20. Jahrhundert der Verkauf von Postkutschen“, etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt. Dennoch bleibt die zentrale krisentheoretische Aussage, wonach die Dritte Industrielle Revolution zu einer absoluten Verdrängung der lebendigen Arbeit aus der Wertproduktion geführt und eine fundamentale Krise der Kapitalverwertung eingeleitet hat, weiterhin uneingeschränkt gültig. Zwar ist es richtig, dass die Nachfrage nach Arbeitskraft im weltweiten Maßstab nicht so massiv eingebrochen ist, wie es der zitierte Satz nahelegt; in einigen Boomregionen, vor allem in China und Südostasien, sind sogar inzwischen massenhaft neue Arbeitsplätze entstanden. Doch das widerlegt nicht die Aussage, dass die Grundlage der Kapitalverwertung immer schmaler geworden ist. Denn das gewaltige wirtschaftliche Wachstum in diesen Regionen wie in einigen kapitalistische Zentren beruht zum allergrößten Teil auf der gigantischen Akkumulation von fiktivem Kapital an den transnationalen Finanzmärkten, welche die weltwirtschaftliche Dynamik seit einigen Jahrzehnten in Gang hält. Es ist also ein Ausdruck und ein Effekt jenes finanzmarktbasierten Krisenaufschubs, der mit der neoliberalen Revolution in den 1980er Jahren eingeleitet wurde.[2]

Nun hatten wir diesen Krisenaufschub durch das fiktive Kapital zwar schon im Manifest thematisiert, doch im Rückblick ist zu sagen, dass wir dessen innere Dynamik und Bewegungslogik nicht ausreichend verstanden und deshalb auch seine Dimensionen und seinen Zeithorizont falsch eingeschätzt hatten. Wir gingen davon aus, dass die „kasinokapitalistische Simulation der Arbeitsgesellschaft“, wie wir es damals nannten, bald schon an ihre Grenzen stoßen müsste. Diese Einschätzung war nicht richtig. Selbst der große, globale Finanzmarktcrash von 2008, der zweifellos einen qualitativen Einschnitt im langen Krisenprozess darstellte und die Weltwirtschaft an den Rande des Abgrunds trieb, konnte noch einmal aufgefangen werden. Mit gewaltigen Konjunktur- und Bankenrettungsprogrammen sowie durch eine extrem lockere Geldpolitik gelang es den Regierungen und Zentralbanken, die finanzmarktgetriebene Akkumulation wieder auf Touren zu bringen – die Kosten für viele Länder vor allem im Süden Europas, waren allerdings enorm.

Dass wir den Verlauf der Krise insbesondere in seinen zeitlichen Dimensionen vor rund zwanzig Jahren anders einschätzten, hatte hauptsächlich theorieimmanente Gründe. Gemessen an der kategorialen Klarheit, mit der wir in den 1980er und 1990er Jahren die Krise der Wertverwertung analysierten, blieb unsere Analyse des fiktiven Kapitals zunächst defizitär. Zwar griffen wir diesen Begriff auf, und interpretierten ihn gegen den Strich des traditionellen Marxismus, der im Grunde nur auf Mehrwertabschöpfung beruhende Kapitalakkumulation kennt, weshalb das fiktive Kapital in seinen Analysen allenfalls eine Nebenrolle spielt. Demgegenüber insistierten wir schon seit den 1980er Jahren darauf, dass das fiktive Kapital habe die Wertverwertung als die treibende Kraft der Kapitalakkumulation ersetzt habe, und billigten so dem Finanzmarktgeschehen eine eigenständige Bedeutung im Akkumulationsprozess zu. Die grundlegende Differenz zwischen der Bildung von fiktivem Kapital und der auf Wertverwertung beruhenden Kapitalakkumulation wurde aber in einer Art und Weise begründet, die diesen Bruch wieder halb zurücknahm.[3]

Im Kern reduzierten wir nämlich die Dynamik des fiktiven Kapitals auf die Anhäufung immer höherer Schuldenberge, vor allem von Staatsschulden, mit deren Hilfe die Akkumulation des Kapitals „simuliert“ und, wie es im Manifest heißt, der „Arbeitsgötze …künstlich beatmet“ würde.

Die Akkumulation an den Finanzmärkten hatte also aus unserer damaligen Sicht im Grunde bloßen Scheincharakter – im Unterschied zur „echten Akkumulation“ durch die Vernutzung von Arbeitskraft – und es erschien daher logisch, dass sie sehr bald schon an ihre Grenzen stoßen musste. Daraus ergab sich auch, dass wir über die Finanzmarktdynamik und ihre innere Logik sowie über ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft nur sehr allgemeine und unkonkrete Aussagen treffen konnten. Schon allein in Anbetracht der langen Dauer der Epoche des fiktiven Kapitals war das jedoch äußerst unbefriedigend und verwies auf Schwächen in der theoretischen Analyse.

In jüngerer Zeit haben wir deshalb das Augenmerk verstärkt darauf gerichtet, die Binnengeschichte der Epoche des fiktiven Kapitals zu analysieren. Dazu bedurfte es allerdings einer Präzisierung des Begriffs des fiktiven Kapitals und eines entsprechenden kategorialen Instrumentariums, mit dem sich die Vermehrung fiktiven Kapitals als eine eigene Form von Kapitalakkumulation begreifen ließ. Zu erklären war dabei erstens, worauf die eigenständige Akkumulationspotenz des fiktiven Kapitals beruht, die keinesfalls bloß „scheinbar“ ist, zweitens aber auch, woraus sich die inneren Grenzen dieser spezifischen Form der Kapitalakkumulation ergeben und wie sie erreicht werden.

Diesen theoretischen Schritt hat Ernst Lohoff vor einigen Jahren in dem Buch Die große Entwertung unternommen und, anknüpfend an die Fragment gebliebenen Überlegungen von Karl Marx zum zinstragenden Kapital aus dem dritten Band des Kapital, eine eigene Kritik der Politischen Ökonomie fiktiver Kapitalbildung entwickelt.[4] Ausgangspunkt ist die Marxsche Feststellung, dass die Vergabe eines Kredits oder die Ausgabe von Aktien dem veräußerten Geldkapital zu einer zeitlich befristeten Doppelexistenz verhilft. Neben die ursprüngliche Geldsumme tritt nämlich für die Laufzeit des Kredits oder die Lebenszeit der Aktie der monetärer Anspruch des Geldgebers. Hat dieser monetäre Anspruch eine übertragbare Form, also die Form eines Finanztitels, dann kann er selber als Ware gehandelt werden, und diese Verdopplung ist gleichbedeutend mit einer spezifischen Form von Kapitalakkumulation. Denn das Spiegelbild des Ausgangskapitals repräsentiert, in der Gestalt des entsprechenden Finanztitels, genauso einen Teil des kapitalistischen Gesamtreichtums wie das Originalkapital selber. Es ist dieser seltsame Mechanismus, der im gegenwärtigen Kapitalismus die Grundlage der globalen Kapitalakkumulation bildet. Solange die Masse der als Ware handelbaren monetären Ansprüche immer schneller anschwillt, kann auch das System des abstrakten Reichtums insgesamt auf Expansionskurs bleiben.

Allerdings bedeutet die Dominanz der finanzindustriellen Akkumulation keine völlige Entkoppelung des Akkumulationsprozesses von der Realwirtschaft. Auch die finanzindustrielle Kapitalbildung bleibt auf ihre Weise immer auf realwirtschaftliche Größen bezogen. Sie setzt zwar keine bereits stattgefundene Verwertung, also vergangene Mehrwertproduktion, voraus, kapitalisiert aber Gewinnerwartungen der Zukunft. Oder anders gesagt, sie stellt die Akkumulation von zukünftig erst zu produzierendem Wert dar. Als solche aber ist sie abhängig von Erwartungen und Hoffnungen auf zukünftige Gewinnsteigerungen in den Gütermärkten oder jedenfalls in bestimmten Gütermärkten. Jeder Immobilienboom beruht auf der Perspektive steigender Immobilienpreise, und jede Hausse an den Börsen bezieht ihre Dynamik aus der Hoffnung auf künftige Unternehmensgewinne.

Diese Abhängigkeit von realwirtschaftlichen Hoffnungsträgern, auf die sich die Gewinnerwartungen beziehen, erklärt die spezifische Krisenträchtigkeit der Epoche des fiktiven Kapitals. Immer wenn sich solche Erwartungen als Illusionen erweisen und Spekulationsblasen platzen, verliert das angehäufte fiktive Kapital schlagartig seine Gültigkeit und die Bildung von neuem fiktivem Kapital gerät ins Stocken. Wie zuletzt in der globalen Krise von 2008, droht dann eine wirtschaftliche Abwärtsspirale, in welcher der durch die Aufblähung des Finanzüberbaus überspielte basale Krisenprozess manifest wird. Verhindern lässt sich das nur auf einem Weg: durch die Schaffung neuer, noch größerer Mengen an fiktivem Kapital, dessen Akkumulation durch Gewinnerwartungen auf anderen Feldern der Realwirtschaft genährt wird. Doch je länger die Epoche des fiktiven Kapitals andauert, desto schwerer fällt es, solche neuen Felder realwirtschaftlicher Hoffnungsträger zu erschließen, während sich gleichzeitig fortlaufend die Ansprüche auf zukünftigen Wert, die eigentlich schon gar nicht mehr einlösbar sind, immer höher auftürmen. Hierin liegt die innere Schranke des von der finanzindustriellen Akkumulation getragenen Kapitalismus.

Mit dem Finanzcrash von 2008 war diese innere Schranke eigentlich schon erreicht. Nur die massive und koordinierte Intervention der wichtigsten Regierungen und Zentralbanken verhinderte, dass die Weltwirtschaft in einen Abwärtsstrudel ungeheuren Ausmaßes geriet. Seither wird die Akkumulation des fiktiven Kapitals im Kern nur noch durch die Politik der Zentralbanken in Gang gehalten, die riesige Mengen Umsonstgeld in die Finanzmärkte schleusen und die Regierungen großenteils durch den massenhaften Ankauf von Staatsanleihen direkt finanzieren. Zwar findet auch weiterhin eine Akkumulation von privatem (also nicht-staatlichem) fiktivem Kapital statt, die sich auf bestimmte realwirtschaftliche Hoffungsträger bezieht (Immobilien, Künstliche Intelligenz, Elektromobilität etc.), doch steht dieses nicht mehr im Zentrum der Dynamik an den Finanzmärkten, sondern ist weitgehend abhängig von den Geldgeschenken der Zentralbanken.[5]

Wenn wir die Akkumulation des fiktiven Kapitals nun nicht mehr bloß als „Scheinakkumulation“ begreifen, sondern als eine spezifische Form der Akkumulation, die ihren eigenen Gesetzen folgt (und ihre eigenen inneren Schranken besitzt), dann können wir auch genauer bestimmen, welche Konsequenzen sich daraus für die Kategorie der Arbeit ergeben – und damit natürlich auch für die Masse der Menschen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind. Zunächst ergibt sich, dass die Arbeit, ökonomisch betrachtet, einen ganz grundsätzlichen Bedeutungsverlust erfährt, wenn das Kapital sich nicht mehr maßgeblich durch die Vernutzung von Arbeitskraft vermehrt sondern sich direkt auf sich selbst bezieht.

In der Epoche des klassischen Kapitalismus, der auf der Verwertung des Werts beruhte und der mit der Krise des Fordismus in den 1970er Jahren zu Ende ging, war die Arbeitskraft die Basisware der Kapitalakkumulation. Denn sie stellt die einzige Ware dar, deren Gebrauchswert darin besteht, Wert und Mehrwert zu produzieren. Diese Sonderstellung bedeutete für die Verkäufer der Ware Arbeitskraft zwar einerseits, sich täglich in den Dienst des Kapitals stellen zu müssen und sich den Zwängen der Wertproduktion zu unterwerfen; andererseits verschaffte sie ihnen jedoch auch eine relativ starke Verhandlungsposition gegenüber dem Kapital, die es ihnen ermöglichte, zumindest in den kapitalistischen Zentren, deutliche Verbesserungen bei der Entlohnung, den Arbeitsbedingungen und der sozialen Absicherung durchzusetzen. Hinzu kam, dass die spezifischen Produktionsbedingungen der standardisierten Massenarbeit vor allem in der Epoche des Fordismus eine breite gewerkschaftliche Organisierung begünstigten.

Die Dritte industrielle Revolution hat diese Konstellation jedoch vollkommen über den Haufen geworfen und die gesellschaftliche Position der Ware Arbeitskraft grundlegend geschwächt. Mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ist das Wissen – genauer gesagt: die Anwendung des Wissens auf die Produktion – zur Hauptproduktivkraft geworden ist und damit Arbeit, die diese Stellung bisher innehatte, von ihrem Thron gestoßen worden. Gleichzeitig waren die neuen Informations- und Telekommunikationstechnologien auch eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung einer neuen transnationalen Arbeitsteilung, die es den Unternehmen erlaubte, das weltweite Gefälle bei Löhnen, Umwelt- und Arbeitsvorschriften, Steuern etc. systematisch zu nutzen, um ihre Produktionskosten zu senken. Damit aber wurde nicht nur die Verhandlungsposition der Arbeitskraftverkäufer noch zusätzlich geschwächt, auch das Verhältnis zwischen Ökonomie und Politik veränderte sich.[6] Während das Kapital zunehmend global agierte und sich direkt auf den Weltmarkt orientierte, blieb die Politik im Wesentlichen auf den nationalstaatlichen Rahmen beschränkt und büßte damit einen erheblichen Teil ihres ohnehin schon immer beschränkten Handlungs- und Gestaltungsspielraums ein. Im Gefolge mutierten die Staaten zu Einpeitschern der neoliberalen Politik, die mit allen Mitteln versuchen mussten, „ihren Standort“ attraktiv für das Kapital zu machen, um in der Weltmarktkonkurrenz mithalten zu können.

Der üblichen linken Sichtweise zufolge ist die umfassende Degradierung der Arbeit und die Schwächung der Nationalstaaten das Ergebnis einer neoliberalen Hegemonie, die von einflussreichen Kapitalfraktionen, Machtgruppen und globalen Eliten in einer Art „Klassenkampf von oben“ erfolgreich durchgesetzt wurde. Doch damit wird die Macht der Politik systematisch verkannt. Richtig ist zwar, dass der Neoliberalismus in gut organisierten Thinktanks schon lange ideologisch und politisch vorbereitet worden war, doch hegemonial wurde er nur deshalb, weil die Krise der 1970er und 80er Jahre ganz offensichtlich mit den keynesianischen Methoden nicht mehr gelöst werden konnte. Der Grund dafür aber war ein struktureller: dem Keynesianismus brach mit dem Ende des fordistischen Booms seine Grundlage weg und unter den Bedingungen der Dritten industriellen Revolution ließ sich die Verwertungsdynamik auch mit noch so vielen staatlichen Konjunkturprogrammen nicht mehr in Schwung bringen. Daher war das Feld für den Neoliberalismus bereitet, der mit dem Versprechen antrat, die Produktion wieder Schwung zu bringen und die Krise zu überwinden.[7]

Freilich ist es auch dem Neoliberalismus – trotz seiner brachialen Maßnahmen der Deregulierung des Marktes, der Prekarisierung der Arbeitsbedingungen, des sozialen Kahlschlags sowie der Privatisierung der öffentlichen Dienste und Infrastruktur – nicht gelungen, die Krise der Kapitalverwertung zu überwinden. Zwar kam tatsächlich in den 1980er und 1990er Jahren die Weltkonjunktur wieder auf Touren, aber der Grund dafür waren nicht angeblich effizientere Produktionsstrukturen, wie es die neoliberale Ideologie verkündete; dagegen spricht schon die Tatsache, dass in den Vorreiterländern des Neoliberalismus, den USA und Großbritannien, die industrielle Struktur großenteils vernichtet wurde. Vielmehr beruhte die erneuerte wirtschaftliche Dynamik maßgeblich auf der Akkumulation von fiktivem Kapital, die ihrerseits erst durch die neoliberale Politik der Deregulierung und der Öffnung der Finanzmärkte ermöglicht wurde. Insofern hat der Neoliberalismus keinesfalls die kapitalistische Krise verursacht, wie ein überaus gängiges Vorurteil behauptet sondern im Gegenteil diese sogar aufgeschoben, indem er dem Kapital ein neues Feld eröffnete, auf dem es noch für einige Jahrzehnte akkumulieren konnte. Die gesellschaftlichen Kosten dafür waren und sind indes verheerend.

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Die Arbeitsideologie spielte eine wichtige Rolle in der Durchsetzung der neoliberalen Revolution und der von ihr eingeleiteten Epoche. Im Unterschied zum Fordismus, in dem die Identifikation mit dem allgemeinen Arbeitszwang den Stumpfsinn der standardisierten Massenarbeit und deren kollektivistische Züge flankierte, wurde nun jedoch eine individuelle Leistungsethik in den Vordergrund gerückt. Die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und Zerschlagung des Sozialstaats galt aus neoliberaler Sicht als Sieg der Leistungswilligen gegenüber den „Faulen“, die sich angeblich auf Kosten der Gesellschaft in der „sozialen Hängematte“ ausruhten. Wer auf der Strecke blieb war selbst schuld und hatte sich halt nicht genügend angestrengt. Somit konnte die grassierende Massenarbeitslosigkeit und die Tatsache, dass der Kapitalismus auf dem gegebenen Niveau der Produktivität immer mehr „überflüssige Menschen“ produziert, zu einem Problem mangelndem individuellen Leistungswillens herabdefiniert werden. Auch die rasant wachsenden Einkommens- und Vermögensunterschiede ließen sich auf diese Weise sehr gut rechtfertigen, denn ein hohes Einkommen galt als angemessene Entlohnung für eine entsprechend hohe Leistungsbereitschaft. Der augenscheinlich zirkuläre Charakter dieser ideologischen Figur, wonach das Einkommen beweise, wie viel jemand geleistet habe, wo doch gleichzeitig dieses ja erst das Resultat eben dieser bestimmten Leistung sein soll, störte die neoliberalen Markteinpeitscher selbstverständlich nicht. Denn die Ideologie des Neoliberalismus ist im Grunde ein geschlossenes Wahnsystem, das die Selbstwidersprüche des kapitalistischen Systems in individuelle Willensverhältnisse umdeutet.

Genauer betrachtet, verrät die neoliberale Leistungsideologie jedoch einiges über das Verhältnis von Arbeit und Kapital in der Epoche des fiktiven Kapitals. Da die Arbeit hier nicht mehr den Motor der Kapitalakkumulation darstellt, sondern ihrerseits zur abhängigen Variable des fiktiven Kapitals geworden ist, spielt der stoffliche Inhalt praktisch keine Rolle mehr. Es kommt nur noch auf die blanke und vollkommen inhaltlose Leistung, die wiederum am blanken monetären Ergebnis gemessen wird. Der stumpfsinnige Produzentenstolz wurde so abgelöst durch den blöden Stolz auf ein pralles Bankkonto und auf idiotische Statussymbole des Erfolges oder des simulierten Erfolges. Voraussetzung dafür war aber, dass ein nennenswerter Teil der Bevölkerung trotz aller damit verbundenen Zumutungen und Selbstzurichtungen  noch an der Dynamik des fiktiven Kapitals partizipierte und sich einreden konnte,  auch in Zukunft noch zu den Gewinnern zu zählen.

Spätestens mit der Finanzkrise von 2008, in der sich die totale Abhängigkeit der Gesellschaft im Allgemeinen und der Arbeit im Besonderen von der Dynamik des fiktiven Kapitals schmerzlich offenbarte, platzte diese Fiktion jedoch. Die große Erzählung des (Neo-)liberalismus, wonach es jeder zu individuellem Wohlstand bringen könne, wenn er sich nur genügend anstrengte, verlor ihre gesellschaftliche Hegemonie.

Nicht weiter verwunderlich ist dabei, dass die Schockwellen der Krise primär keinesfalls die Teile der Bevölkerung in ihrem Welt- und Selbstbild erschütterten, die ohnehin schon zuvor sozial abgehängt worden waren, und für die die Behauptung, dass Leistung sich lohne schon lange wie purer Hohn klang, sondern vor allem jene, die geglaubt hatten, es auf die Gewinnerseite geschafft zu haben oder es noch zu schaffen. Denn sie sahen sich nun in ihren kläglichen Hoffnungen betrogen, und mit einem Mal empfanden sie es als tiefe Kränkung, dass sie als Arbeitskraftverkäufer für das Kapital eigentlich nur lästige Anhängsel sein sollten, die nicht einmal mehr für den Selbstzweck der Akkumulation von Nutzen sind. Doch diese Infragestellung ihrer Identität als Arbeits- und Leistungssubjekte verwandelten sie mehrheitlich nicht etwa in Kritik, sondern in ein antisemitisch konnotiertes Ressentiment gegen „die gierigen Spekulanten und Bankster“, denen sie das Phantasma der „ehrlichen Arbeit“ entgegenstellten. Dazu gesellte sich der projektive Hass gegen Einwanderer im Allgemeinen und Flüchtlinge im Besonderen, die als Inkarnation der kapitalistisch „Überflüssigen“ die panische Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg repräsentieren und daher umso rücksichtloser aus dem Blickfeld – und am besten gleich aus dem ganzen Land – entfernt werden sollen.

Es liegt durchaus in der Logik der Sache, dass dieser regressive Bezug auf eine längst überkommene Arbeitsidentität, sich mit einer nicht weniger regressiven Wiederbelebung nationalistischer Kollektividentitäten verbindet. Denn neben der Arbeit gilt den kapitalistisch durchformatierten Menschen auch die Nation als eine Art überhistorisch abgesicherter Seinsgrund, ungeachtet der Tatsache, dass es sich dabei um eine Erfindung des 19. Jahrhunderts handelt. Aber auch hier gilt, dass die Wirklichkeit immer schon durch den Filter des Fetischdenkens wahrgenommen wird. Deshalb bilden Arbeit und Nation ein Zwillingspaar scheinkonkreter Gewissheiten, auf die sich die Warensubjekte in Krisenzeiten stets identitär rückbeziehen, um sich gegenüber den Bedrohungen durch die kapitalistische Dynamik abzusichern. Letztere erscheint dagegen als fremde, abstrakte und äußerliche Macht, welche die scheinbar ewig gültige Lebensweise als national borniertes Arbeitstier bedroht. Nicht immer wächst sich diese Verblendung zu der altbekannten Wahnvorstellung aus, dass hinter alledem die „jüdische Weltverschwörung“ stehe, aber der Boden für diesen antisemitischen Topos ist bereitet. In jedem Fall aber folgt aus ihr, dass die auf Arbeit und Nation beruhende Identität gegenüber der Bedrohung durch „fremde Mächte““ und den von den „neoliberalen Eliten“ entfesselten „Globalismus“ verteidigt werden muss, ebenso wie gegen die herbeiphantasierte Aushöhlung durch die massenhafte Einwanderung von „kulturfremden Elementen“. Beide Phantasien ergänzen sich gegenseitig und es ist in diesem paranoiden Weltbild selbstverständlich auch kein Problem, sie zusammen zu bringen, etwa indem behauptet wird, die großen Flüchtlingsbewegungen nach Europa würden von „jüdischen Machtgruppen“ gesteuert, um die europäischen Nationen von innen heraus zu zerstören.

Der meisten Linken stehen diesen wirren Wahnvorstellungen vollkommen hilflos gegenüber, und zwar deshalb, weil sie zentrale Elemente dieses Weltbilds selbst teilen. Am offensichtlichsten ist das bei Linkspopulisten wie Wagenknecht, Corbin oder Mélenchon, die mit dem Programm antreten, einen auf Massenarbeit beruhenden, staatliche regulierten Kapitalismus wieder herzustellen, und zu diesem Zweck die Nationalstaaten wieder stark machen wollen. Abgesehen davon, dass es sich dabei um eine vollkommen phantastische Vorstellung handelt, muss man schon genau hinschauen, um hier noch die verschwommenen Grenzlinien zu erkennen, die diese Linke von der neuen und alten Rechten unterscheidet.[8] Aber auch jenseits solcher offen nationalistischen Positionen reduziert sich die Kapitalismuskritik vieler Linker immer noch viel zu häufig darauf, die Macht des Finanzkapitals, der Banken und der globalen Konzerne anzuklagen, die auf Kosten der großen Mehrheit der Bevölkerung lebe. Die extreme Polarisierung der globalen Reichtumsverteilung, die in den letzten Jahrzehnten geradezu obszöne Ausmaße angenommen hat, wird damit in einer Weise thematisiert, als stünde „das Volk“ (oder wie es oft heißt: „die 99 Prozent“) irgendwie außerhalb des Kapitalismus und werde bloß äußerlich von einer globalen aber mächtigen Minderheit (das 1 %) unterdrückt, beherrscht und ausgebeutet.

Damit wird freilich vollkommen verdrängt, dass die größte Schwierigkeit einer gesellschaftlichen Emanzipation gerade darin besteht, die kapitalistische Formatierung der Subjekte selbst zu durchbrechen und die warengesellschaftliche Lebensweise aufzuheben, auf die sie fixiert sind.[9] Die Kritik der Arbeit ist dafür nach wie vor zentral, denn sie richtet sich sowohl gegen die zentrale Fetischform der warenproduzierenden Gesellschaft, als auch gegen die darauf beruhenden Identitäten; nicht nur gegen die Arbeitsidentität als solche, sondern auch gegen die Identität des westlich-weißen „Arbeitsmannes“[10] und „Leistungsträgers“, der die Welt, um den Preis ihrer Zerstörung, nach seinem Gusto umformt, und gegen die stets mit der Phantasie der „ehrlichen Arbeit“ verbundenen nationalen Identitäten.  Arbeitskritik zielt auf nichts weniger, als auf die Herstellung einer Gesellschaft, in der die Menschen nach freien Stücken über ihre gesellschaftlichen Beziehungen verfügen, statt von diesen in der Gestalt von versachlichen Zwängen beherrscht zu werden. Auf eine Gesellschaft also, in der die Menschen nicht länger dem Zwang zur Arbeit unterliegen, nur um irgendwie am gesellschaftlichen Warenreichtum teilhaben zu können, sondern in der jeder und jede nach seinen und ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten tätig sein kann. Mit anderen Worten, sie zielt auf die Aneignung des gesellschaftlichen Zusammenhangs durch frei assoziierte Individuen in der Gestalt einer allgemeinen gesellschaftlichen Selbstorganisation. In diesem Sinne ist das Manifest gegen die Arbeit immer noch so aktuell wie vor zwanzig Jahren.

Norbert Trenkle (Gruppe Krisis) im Winter 2018/ 2019

[1] Vgl. ausführlicher zur Entwicklung der Wertkritik: Ernst Lohoff/ Norbert Trenkle: „Es bedarf einer neuen Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation“. Ein Gespräch über die Entstehung und Entwicklung der Wertkritik, die fundamentale Krise des Kapitalismus und den fortschreitenden gesellschaftliche Irrationalismus, www.krisis.org 2008

[2] Ernst Lohoff: Auf Selbstzerstörung programmiert, Krisis 2/ 2013

[3] Ernst Lohoff, Zwei Bücher – zwei Standpunkte, krisis.org 2017

[4] Ernst Lohoff/ Norbert Trenkle: Die große Entwertung, Münster 2012, S.110 ff. sowie: Ernst Lohoff, Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation, Krisis 1/2014

[5] Ernst Lohoff, Die letzten Tage des Weltkapitals. Kapitalakkumulation und Politik im Zeitalter des fiktiven Kapitals, Krisis 5/2016

[6] Norbert Trenkle, Workout. Die Krise der Arbeit und die Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft

[7] Ernst Lohoff, Die letzten Tage des Weltkapitals. Kapitalakkumulation und Politik im Zeitalter des fiktiven Kapitals, Krisis 5/2016

[8] Norbert Trenkle: Vorwärts in die Regression, in: Merlin Wolf (Hg): Irrwege der Kapitalismuskritik, Aschaffenburg 2017

[9] Ernst Lohoff: Die Verzauberung der Welt, in: Krisis 29, Münster 2005

Karl-Heinz Lewed: Schopenhauer on the rocks, in: Krisis 29, Münster 2005

Ernst Lohoff: Ohne festen Punkt, in: Krisis 30, Münster 2006

Peter Samol, All the Lonely People. Narzissmus als adäquate Subjektform des Kapitalismus, Krisis 4/2016

[10] Norbert Trenkle: Aufstieg und Fall des Arbeitsmanns, in Exner, Andreas et.al. (Hg.): Grundeinkommen, Wien 2007